Von den Baumwipfeln aus
Wie mich Saltstraumen und Monika Z. gelehrt haben, wie's für mich von oben aussieht
Es war 6.30 Uhr, 4 Grad Celsius im Juni, ich schlief die ganze Nacht kaum, weil es am Polarkreis, in Bodø, wo ich mich wegen einer beruflichen Reise befand, im Juni nicht dunkel wird. Meine Füße waren nass vom Schlamm, doch ich glücklich. Von meinem AirBnB-Host hatte ich eine Tabelle erhalten, in der stand, wann die Flut kommt, die den stärksten Gezeitenstrom der Welt in Bewegung setzt. Am 2. Juni ist dies 10.33 Uhr, also bin ich früh aufgestanden, mit einem Schulbus an einer der schönsten Landschaften vorbei gefahren, die ich je sah und eine steile Brücke bestiegen, von der aus ich über Berge, Fischerboote, das stillstehende Wasser, frisches grünes Gras und Farne blicke. Und auf den Strom, der sich in den nächsten vier Schritten Schritt für Schritt in Bewegung setzen wird. Ich atme die kalte Luft ein und denke: Was für ein Privileg, mir dieses Naturschauspiel allein mit einem Haufen Möwen ansehen zu können.
Nur für diesen Moment, denke ich, hat sich alles, was ich bisher für das Leben, was ich heute führe, unterwegs und von meinen Worten und Sprachkenntnissen lebend, getan habe, gelohnt. Danke, dass ich mir selbst gezeigt habe, wie das Leben von hier oben, und zwar genau hier oben an einem der faszinierendsten Orte der Welt aussieht, und nicht von einem Büroturm im 24. Stock. Was nun auch schief geht, diesen persönlichen Baumwipfel kann mir niemand mehr weg nehmen.
Von den Baumwipfeln aus
Bin ich die einzige, die solche Baumwipfel hat? Freilich können sie für jede anders aussehen. Das Wichtige ist, sie zu haben, um den ganzen restlichen Wahnsinn zu überstehen.
Resilienz, das habe ich in den vergangenen Jahren gelernt, heißt nicht nur, in schweren Momenten mit anderen und sich selbst klar zu kommen, sondern auch die guten zu schätzen, zu wissen, was wirklich wichtig ist, zu spüren, dass es sich dafür lohnt, früh aufzustehen, oder mal früher Feierabend zu machen, dass Ambition mal Fleiß, mal bedingungslose Nachsicht mit sich selbst bedeuten kann.
Als ich vergangene Woche vier Tage in einer Hütte ohne Streaming-Dienste verbrachte, stieß ich auf die DVD “Monika Z.” Es ist ein Biopic über Monica Zetterlund, eine Pionierin des Jazz auf Schwedisch. Ich bin weder besonders Jazz interessiert, noch kannte ich die Sängerin. Doch mangels Alternativen war meine Aufmerksamkeit ganz auf das Schicksal dieser Frau im Schweden der 50er und 60er Jahre gelenkt, und auf ihren unerschütterlichen Glauben an sich selbst, trotz Sucht, trotz Misserfolgen wie dem letzten Platz beim Eurovision-Song-Contest 1963.
Bei ihrer ersten Reise ins Ausland traf sie Nina Simone, die sich von Z.s englischen Jazz-Interpretationen wenig begeistert zeigte, und laut Film sagte: “Was weißt du schon über New Orleans? Singe lieber über dein eigenes Leben!” Statt sich in Selbstmitleid zu suhlen, machte Z. genau das - und zwar auf schwedisch. 1964 hatte ihre Karriere also bereits einige Höhen und Tiefen und letztlich ihr persönliches Highlight erreicht, als ihr Vater endlich das Radio einschaltete und seiner Tochter das erste Mal Wertschätzung für ihre Leistung gab. Am Piano saß Z.s Idol Bill Evans und die Sängerin aus Hagfors sang dazu auf Schwedisch. Ihr Vater, mürrisch, in Abwehrhaltung, ließ sich nur schwer von der Mutter überzeugen, Monika Zetterlunds bis dato größten Karriere-Moment zu erleben. Nachdem der Song vorbei ist, ruft er jedoch seine Tochter an und entschuldigt sich bei ihr unter Tränen. Dafür, dass er nicht immer an sie geglaubt hat, ihr Vorwürfe machte, dass sie sich mehr um ihre Karriere als um ihre Tochter kümmerte, erinnerte sich daran, dass sie bereits als Kind gern hoch hinaus auf Bäume wollte, genau wie sie mit ihrer Kunst nun hoch hinaus wollte, und bedankte sich bei ihr, dass sie ihm gezeigt habe, wie das Leben vom Baumwipfel aus aussehe.
Der Moment rührte mich wesentlich mehr als das kitschige Ende, an dem alles gut und normativ wird, weil ich daran dachte, dass es immer erst soweit kommen muss, super erfolgreich zu sein, bis die Umwelt den Wipfel erkennt, auf den sich die einen leichter, die anderen mit wesentlich mehr Hindernissen hinauf schwingen. Umso wichtiger, dass ambitionierte Menschen sich die Zeit dafür nehmen, sich auf dem Gipfel einmal umzusehen, wenn sich ihnen die Aussicht dafür bietet.
Was ihr diesen Sommer sonst noch lesen könnt:
How to do nothing
Das beste Sachbuch, das ich seit langem las, war Jenny Odells “How to do nothing - Resisting the attention economy”. Entgegen des Titels ist es kein Selbsthilfe-Buch im klassischen Sinne, es ist ein politisches Buch im Selbsthilfe-Buch-Mantel. Was wir entdecken können, wenn wir unsere Aufmerksamkeit wirklich auf unsere Umgebung richten, welches Potential das Entdecken unserer Nachbarschaft hat, welche Bedeutung Parks in der Stadt haben - anhand historischer Beispiele zeigt Odell Strategien auf, wie wir unsere Aufmerksamkeit zurück erobern können.
99 Ideen zu Nachhaltigkeit
Ab Freitag, 16.Juni, gibt es das neue Femmit-Mag am Kiosk. Mit 99 Ideen zu Nachhaltigkeit. Wenn ihr neugierig seid, was ich dazu beigetragen habe, schnappt euch ein Exemplar.
Mittsommer in Karlstad
Spontan noch eine Reise zu Midsommer in Schweden planen? Für die Apotheken-Umschau habe ich aufgeschrieben, wie’s gehen kann und was eine*n erwartet.
Das feministische Erbe Schwedens
Für DEINE KORRESPONDENTIN habe ich eine Analyse zur Lage der feministischen Außenpolitik in Schweden und der deutschen Interpretation geschrieben.
Liest sich prima (und ist es inhaltlich auch) Danke!
Ich habe gerade etwas in Schweden "gemacht". Lach bitte nicht, aber im September gibt es in Trelleborg die größte nordeuropäische Briefmarkenausstellung und ich habe mich in der Literaturklasse qualifiziert. Fürs Palmares plane ich gerade meine Reise: Nachts hin, tags Literaturvorstellung und Jury, nächste Nacht retour. Aber daran muss ich noch etwas feilen... Aber so eine Dino-Show, wer befasst sich heute noch mit Philatelie, ist es vielleicht Wert. Beste Grüße in den Norden!
Uwe