Das erste Mal zur Bundestagswahl gewählt habe ich 2009, in einer Schule in Berlin Charlottenburg. Verkatert. Die Bundestagswahl fiel in den seitdem vergangenen zwölf Jahren sehr oft auf den Sonntag nach meinem Geburtstag. Von 2008 bis 2016 habe ich in Berlin gelebt, in dieser Zeit bin ich zweimal umgezogen, meist ebenfalls im September und habe mich vom neuen Bezirk in den alten geschleppt. Per Brief habe ich auch schon einmal gewählt, bei der letzten Bundestagswahl 2017, von München aus, denn sie fiel zwischen meine Zeit am Institut für Publizistik und, wie so oft, eine direkt angeschlossene Reise nach Schweden.
Am Wahlabend saß ich dann neben einem ehemaligen Kollegen meines Partners und ihm vor dem Fernseher, und musste um Aufmerksamkeit für die Hochrechnungen kämpfen, die auch im schwedischen Fernsehen gezeigt wurden. Wir verfolgten, wie die rechtspopulistische Partei Afd (Alternative für Deutschland) mit 12, 6 Prozent zum ersten Mal in den Bundestag einzog. Wir zogen schnell Parallelen zu den Schwedendemokraten, der größten rechtspopulistischen Partei in Schweden, die sich in den vergangenen Jahren ebenso wie die AfD einen bürgerlichen Anstrich gegeben hat. Diese sitzt bereits seit 2010 im schwedischen Reichstag. Viele Deutsche denken beim Thema Schweden nicht an Rechtspopulismus, weswegen sie das hohe Ergebnis von 17,5 Prozent bei der letzten Wahl in Schweden mehr schockiert hat als mich. Ansonsten fiel das Gespräch schnell auf Helmut Kohl, denn unser Gastgeber hatte sich die Elternzeit mit dem Baby auf dem Schoß mit Politik-Dokus vertrieben. Helmut Kohl, den Wiedervereinigungskanzler, kennt eine in Schweden. Angela Merkel natürlich auch. Oft wird sie idealisiert: Sie gilt einigen als Kanzlerin, die die Grenzen öffnete, die Ehe für alle einführte, sowie das dritte Geschlecht „divers“. Dass der letztere Punkt auf das Bundesverfassungsgericht zurück geht, und sie die „Ehe für alle“ zwar für das Parlament zur Wahl geöffnet hat, sich selbst jedoch dagegen ausgesprochen hat, ist der breiten Masse nicht bekannt. Aber Hand aufs Herz, wie detailliert interessieren wir selbst uns für die politischen Entscheidungen in anderen Ländern? Siehe Überschriften in deutschen Medien von 2018 wie „Das Ende von Bullerbü“, als wenn dieses erst 2018 stattgefunden hätte, oder es so etwas wie ein Schweden als Land, in dem alles perfekt läuft, jemals gegeben hätte.
Trotzdem war es eine große Umstellung, aus einem Klassenzimmer voller in Deutschland lebender Journalist*innen, mit denen ich ein paar Abende zuvor das Wahlduell zwischen Martin Schulz (SPD) und Angela Merkel (CDU) in einem Münchner Klosterkeller verfolgt hatte, zu etwas gleichgültigen Schwed_innen zu wechseln. Das Interesse an Deutschland ist in Schweden allgemein nicht besonders groß – gern orientiert man sich stattdessen an den USA. Das Freiheitsverständnis und die Prämisse “Innovation über Tradition” lässt die Länder auch ähnlicher wirken als Deutschland und Schweden.
Als ich vergangene Woche mit einem schwedischen Bekannten schwimmen ging, fragte er mich, an was ich gerade arbeite. „An einem großen Artikel über Angela Merkel, anlässlich der Bundestagswahl in zwei Wochen“, antworte ich auf Schwedisch, nur Bundestagswahl übersetze ich nicht. Wie einige in Schweden hatte er Deutsch in der Schule, erinnert sich jedoch kaum noch an ein Wort. Wiederum: Wie viele der Fremdsprachen aus der Schule können wir selbst noch sprechen? Er ist im Gegensatz zum Rest meines Umfeldes (zum Glück) kein Journalist und weiß nicht, was und wann die Bundestagswahl ist. Dass Merkel sehr lange regiert hat, ist ihm dagegen bewusst. Wir gehören der gleichen Generation an: Generation Merkel in Deutschland ist Generation Reinfeldt (Moderaterna = liberale Partei) und Generation Löfven (Sozialdemokrat, regiert seit 2014) in Schweden.
Kundige Gesprächspartner_innen sind, neben meinem Partner, der Deutsch kann und vier Monate in Berlin verbracht hat, schwedische Deutschlandkorrespondent_innen auf Twitter. Ihre Sichtweise auf den deutschen Wahlkampf ist viel fakten- als personenorientierter als in Deutschland, jedoch legen sie zum Beispiel mehr Fokus auf den Besuch des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, als ich das tun würde. Schließlich hat er kaum politischen Einfluss. Wenn es um Würste und Deutschland geht – vegane Currywurst in der VW-Kantine oder Bratwürste fürs Impfen – hören Schwed_innen gern zu.
Wenn ich für eine große, schwedische Tageszeitung über politische Themen in Deutschland schreibe, wende ich Tricks an. Ich ziehe Parallelen zu schwedischen Themen, jüngst verglich ich das Verlieren von Stefan Löfvens Vertrauensfrage und der möglichen Ablösung von einer Frau in einem Jahr mit Schröders verlorener Vertrauensfrage 2005, als mit Angela Merkel die erste Frau Bundeskanzlerin wurde. Dass Schweden, das sich für wesentlich feministischer als Deutschland hält, selbst noch keine Regierungsschefin hatte, wurmt viele.
„Hörst du, dass Merkel ein bisschen spricht wie ich, wenn ich Englisch rede?“, habe ich vor einigen Jahren meinen Freund einmal gefragt.
(Ich habe es sympathisch gefunden, als Angela Merkel zu Barack Obama während einer Berlin-Tour mit breitem ostdeutschen Akzent im Englischen sagte: „And I come from Eastern Germany“.)
Er hörte es nicht. Es ist einfach nur ein deutscher Akzent, „You have a Berlin accent“, hatte der schwedische Indie-Popsänger Jens Lekman, der aus einem Vorort von Göteborg kommt, bei einem Konzert in Fengersfors (Dalsland) einmal zu mir gesagt.
Ich habe in deutschen Schulen gewählt, in Jogginghosen am Chill-Tag nach meinen Geburtstagen in den 20ern, im Abendkleid, um die Kommunalwahl in Sachsen-Anhalt 2019 schnell noch zwischen Schweden-Aufenthalt und Musical einzuschieben, in Sonntagsbluse in einem bayerischen Dorf, als ich noch zur Schule ging.
Doch noch nie zuvor bin ich im Göteborger Regen im Laufoutfit in unseren Kiosk um die Ecke gegangen, der auch als Post dient, habe den roten Umschlag, den ich über einen Monat vorher per Post in Deutschland beantragen und geheim in meiner Küche in Göteborg ausfüllen musste, frankieren lassen und gesagt: „Via luftpost till Tyskland“.
Neuigkeiten
Am Sonntag, 19. September, sind die Sozialdemokraten wieder die stärkste Macht im Kirchenparlament geworden. Neu eingezogen ist allerdings auch die rechtsextreme Partei “Alternative für Schweden”. An der Kirchenwahl teilnehmen können alle Mitglieder der schwedischen Kirche über 16 Jahre. Die Wahlbeteiligung ist allerdings gering: Dieses Jahr machten nur 17 Prozent der Wahlberechtigten von ihrer Stimme Gebrauch.
Quelleninfo: Dieser Link führt zu einer Leichte-Sprache-Version der Nachricht beim öffentlich-rechtlichen Radio in Schweden.
Auch in Schweden wurde die Impfung von Kindern inzwischen beschlossen. Für 12 bis 15-Jährige mit Vorerkrankungen gibt es das Impfangebot bereits, ab November soll es allgemein gelten.
Quelleninfo: Der Link führt zu Folkhälsomyndigheten, der schwedischen Gesundheitsbehörde.
Am 29. September sollen die meisten, noch übrigen Restriktionen, die es in Schweden im Moment noch gibt, aufgehoben werden. Dazu gehört die Personenbegrenzung in Lokalen sowie das Bevorzugen von Home-Office. Nach und nach sollen Mitarbeiter_innen in die Büros zurückkommen. Es ist Stufe Vier im Plan der schrittweisen Öffnung, der auf Grund der hohen Impfdichte ( ca. 82 Prozent aller über 16-Jährigen haben zum 20. September mindestens eine Dosis erhalten, insgesamt etwa 69,59 Prozent) durchgeführt wird, trotz einer Inzidenz von 68,6.
Quelleninfo: Die Informationen über die schwedischen Restriktionen sind von der Regierungsseite, die schwedischen Impfzahlen vom Newsticker des öffentlich-rechtlichen Fernsehens SVT und die internationalen von corona-in-zahlen.de, der Datenbank, die sich aus Daten der John-Hopkins-Universität und dem Robert-Koch-Institut speist.
Was ihr zuhause nachmachen könnt
Geht am Sonntag, 26. September, wählen. Ein Interviewpartner hat es neulich so schön ausgedrückt: Natürlich gehe ich von hier aus wählen, auch wenn ich nicht mehr in Deutschland lebe. Es betrifft schließlich meine Familie und Freund_innen.
Was es nur in Schweden gibt
Notting Hill in Göteborg: Meine Lieblingsstraße, umringt von Stadtvillen in Kungsladugård.