Midsommar, eine der wichtigsten, schwedischen Feiertage, steht am Freitag an, und er ist in Schweden arbeitsfrei. Für mich hat der Tag, ebenso wie die meisten offiziellen Feiertage, eigentlich keine weitere Bedeutung, außer, dass ich den Zeitpunkt sehr schön finde, so mitten im Sommer und in der kürzesten Nacht des Jahres. Dass es jedes Jahr das Gleiche zu essen gibt wie an Ostern und Weihnachten - eingelegten Hering, Köttbullar, Kartoffel- und Rote-Beete-Salat - habe ich schon mehrmals mokiert. Inzwischen habe ich mich allerdings daran gewöhnt.
Ebenso wie an einen gewissen Konformismus in Schweden, der eben auch sehr bequem ist. Warum nicht das gleiche Outfit wie alle im Büro kaufen, wenn es gut aussieht, und praktisch ist? Warum nicht einfach “Vad mysigt!” (etwa= wie gemütlich!) antworten, wenn etwas Schönes erzählt wird und “Det var tråkigt”, wenn etwas schlimm ist, oder langweilig war. Spart Energie und gibt der erzählenden Person Platz.
Die Sucht, einzigartig und besser als die anderen zu sein, ist gar nicht so leicht abzulegen, wenn man mit “Höher, schneller, weiter” aufgewachsen ist, und es vor allem in der Medienbranche gut kommt, sich hervor zu tun. In Schweden möchten die Meisten dagegen sehr gern dazu gehören, “att sticka ut”, aus der Menge herauszustechen, ist eher etwas Negatives. Das kann positiv sein, weil die Menschen grundsätzlich etwas bescheidener auftreten. Es kann aber auch nerven, wenn es zum Beispiel zu unbequem und herausstechend ist, freiwillig Maske zu tragen.
Berlin ist nur eine Phase
Während Deutschland als Land nicht so spannend für die meisten Schwed_innen ist, hat mir eine Bekannte neulich erzählt, warum viele Schwed_innen zwischen Abitur und Studium Zeit in Berlin verbringen. Weil es eine Phase gäbe, in der man etwas sei: Hipster, Feministin, Punk. Berlin sei die ideale Stadt, diese Phase auszuleben. Ich kann das nachvollziehen, aber redete mich ein bisschen in Rage über diese Stadt, in der Menschen ein Leben haben, und keine Phase, und mit ihren Löhnen kaum die Miete bezahlen können, die jungen, priviligierten Schwed_innen günstig vorkommt. Die nach vier Monaten Party machen zurück kommen, um dann einen langweiligen Job zu finden und die Haare am besten in der selben Farbe (entweder blond mit Balayage oder braun mit blonden Strähnen) zu tragen. Die Kleidung möglichst neutral wählen. Möglichst lagom (nicht zu viel und nicht zu wenig) viel sprechen.
Und manchmal habe ich sogar den Eindruck, man soll lagom viel fühlen.
Später bereue ich meine spontane Reaktion, denn nach meinem Bachelor habe auch ich in Krakau vier Monate lang allein in einem Zimmer gewohnt, das sich polnische Studierende teilen müssen. Für mich war es damals günstiger und doppelt so groß wie mein Zimmer in Berlin. Etwas mehr lagom wäre also durchaus manchmal angebracht.
Trotzdem ist Feminismus keine Phase und man sollte auch nicht wegziehen müssen, um ein Jugendlicher sein zu können. Vor der Pride in Göteborg habe ich mit einem Freund darüber gesprochen. “Ich bin mir sicher, die richtigen Orte hier noch finden zu können”, sagt er. “Oder noch etwas aufbauen zu können”, sage ich. Einen Tag später erleben wir zusammen die erste Göteborg-Pride während, nicht nach, der Pandemie. Es sind etwa 20.000 Teilnehmer_innen gekommen. Für manche unserer Freund_innen ist es nicht nur die erste in Schweden, sondern die erste in ihrem Leben. Göteborg, vor allem Schweden, ist für viele queers ein Ort geworden, an den sie kommen, um sich sicher fühlen zu können. Lagom leben heißt für mich auch, Widersprüche aushalten zu können.
Netzdebatte
Ich habe den kurz vor Pfingsten auf Twitter trendenden Hashtag #swedengate zunächst in Schweden nicht für ein großes Thema gehalten, wurde dann aber durch Gespräche mit Freund_innen, Bekannten, und schließlich Recherche eines Besseren belehrt. Die meisten haben das Phänomen, nicht zu Gast bei Schweden zu sein, sowohl auf der einen oder der anderen Seite erlebt. Deshalb habe ich dann hier bei nd-aktuell darüber geschrieben.
Als ich den Artikel bei Instagram in meiner Story bekam ich auch sowohl zustimmende, als auch “Ist wie in Deutschland” - sowie “Ist totaler Quatsch!”-Reaktionen. Wenn du selbst schon einmal in Schweden gelebt hast, oder lebst: Wie siehst du das? Kommentiere gern hier unter dem Beitrag oder schreibe auf diese Mail zurück.
Filmtipp zu Midsommar unter Vorbehalt
Dem Horrorfilm “Midsommar” (2019) habe ich Unrecht getan. Im tiefsten Winter sah ich ihn in einem einsamen Haus in Strömstad und sehnte mich nach Juni und dem Sommersonnenwendefest, “Midsommar”. Dann fand ich zunächst den amerikanischen Blick des Films auf schwedische Traditionen stereotyp und habe mich sehr geärgert. Als ich ihn später zu Ende sah, ergab eine kurze Recherche, der Blick auf die vielen, schwedischen Mitwirkenden und ein Gespräch mit meinem Partner: Die meisten Traditionen in Midsommar sind in echten, schwedischen Traditionen begründet. Einige schwedische Eigenarten wie die freundliche Reserviertheit Fremden gegenüber, eine gewisse “Carpe-Diem”-Einstellung mit einer dunklen Komponente und die plötzliche, zunächst unpassend erscheinende Ausgelassenheit zu Festen und besonders zu “Midsommar” wurden ironisch überspitzt. Außerdem ist es eine 1:A-Rachegeschichte und das Schauspiel der britischen Florence Pugh ebenso wie von Göteborgerin Isabelle Grill. Er ist jedoch an manchen Stellen für meinen Geschmack unnötig widerlich und nicht gruselig, zum Midsommar-Buffet also nicht unbedingt zu genießen.
Hej Regine!
Mal wieder ein toller Text von dir! Ich höre es auch viel zu häufig, dass Feminismus oder alternative Lebenswege nur eine "Phase" wären. Natürlich kann man auch ohne blaue Haare für eine fairere Welt eintreten, aber man sollte nicht immer das Gefühl bekommen, dass man vom "normalen" Weg abweicht, sobald man mal nicht dem Fischschwarm hinterher schwimmt.
Ich freue mich über zukünftige Newsletter:)
LG aus den Niederlanden!
Juliane