Känn ingen sorg för mig, Göteborg
Wie ich nach acht Jahren kapiere, warum ich in Göteborg plötzlich so gut klar komme
Ich lebe in der zweitgrößten Stadt Schwedens. Auf den ersten Blick ist schwer nachzuvollziehen, was an ihr nun so besonders ist. Doch nach acht Jahren, in denen ich sie schon kenne, und knapp zwei Jahren, in denen ich hier lebe, habe ich mein Herz an sie verloren.
Und es ist sehr schwer, das ganz genau an der Stadt festzumachen. Sie ist teilweise sehr hässlich, es gibt viele Baustellen - denn die Stadt ist in Bewegung. Autofrei soll sie in den nächsten Jahren werden, in unsere Miete geht kein Parkplatz ein, sondern ein Abo für M, die Volvo-Version des Car-Sharing Services Drive now. Ich lebe in einem Luxus-Sozialwohnungsgebiet, zentrumsnah und mit zehn Minute Laufnähe zum Wald.
Die geplante Mischung
In unserem Laubengang ist die Generationsmischung bis auf viele Jahre im Voraus geplant: Eine Single-Wohnung, dann kommen wir als kinderloses Paar, dann die Ein-Kind-Familie und gegenüber die Reihenhäuser für Familien mit mehreren Kindern und Hunden. Auf diese Wohnung haben wir uns beworben, wir durften sie vor Einzug nicht von innen sehen und mein Freund stand schon seit 8 Jahren auf der Warteliste. “Herzlichen Glückwunsch zum Erste-Hand-Mietvertrag!”, sagen Verwandte und Freund:innen und stoßen freudestrahlend mit schlechtem Sekt, der zehn Euro gekostet hat, auf unsere 50 Quadratmeter-Wohnung an. Ich muss innerlich immer ein bisschen sarkastisch lächeln. Meine Wohnsituation war nie besonders priviligiert, aber “Erste-Hand-Mietverträge” habe ich seit meinem allerersten WG-Zimmer, das ich vor 13 Jahren in Berlin bezog.
Reibungsloser Alltag für manche wie mich
Doch für Leute wie mich funktioniert die Stadt gut. Jeden Dienstag kann ich mir Indie-Filme in einem kleinen Programm-Kino ansehen und danach veganen Hackbraten essen. Wenn ich möchte, kann ich dort die Kultur- und Medienszene Göteborgs treffen, oder mich mit meinen Freelance-Freundinnen auf der anderen Seite der Stadt tagsüber im Café zum arbeiten verabreden und muss niemanden sehen. Ein Barista-Kaffee kostet um die drei Euro, billiger geht’s bei 7/11.
In Göteborg kann ich noch die erste internationale Schreibgruppe gründen, im ersten, hawaiianischem Café einer Bekannten. Der Wohnraum ist begrenzt, die Miete aber noch günstig genug, dass eine Bekannte sie mit ihrem Call-Centerjob noch allein finanzieren kann. Dass ich Freelancerin bin und das auch auf Dauer bleiben möchte, ist weniger normal als in Berlin - dafür habe ich USP-Potential mit meinem internationalen Blick auf die Dinge. “Ich kenne niemanden, der das macht, was du machst”, sagte eine befreundete, schwedische Journalistin neulich.
Berliner Leben, aber günstig
Das, was ich in Berlin 2008 noch gesucht habe, aber schon längst im Verschwinden war, ist in manchen Ecken Göteborgs gerade erst im Entstehen, man muss es nur finden.
Einmal bin ich beim feministischen Club der Studierenden der Universität Göteborg gelandet. Das Café war in einem Plattenbau in einer riesigen Betonsiedlung, in der auch die Studierendenwohnheime lagen. Ein großer Kontrast zu den schicken Prachtbauten in der Innenstadt.
Schwimmen gehe ich im Kulturhaus in Frölunda, in dem man für knapp 7 Euro saunen und Bahnen ziehen, danach in der Bibliothek arbeiten und ins Kino gehen kann. Manchmal gehe ich nach dem Schwimmen in “Adams Café” lunchen oder in “Dahls Bageributik” frühstücken. Es erinnert mich an Berlin-Wedding.
Aldrig flyttar vi till Stockholm
Im Abendlicht stand ich mit meinem Freund 2017 in Stockholm, wir blickten von einer Brücke auf das Schloss. Unser Gastgeber erklärte, warum er es auch im 21. Jahrhundert wichtig findet, dass es eine Monarchie gibt. “Siehst du, deshalb können wir nie nach Stockholm ziehen”, sagt mein Westküsten- und Waldschwede trocken. Ich verstehe erst jetzt, was er meint. Wer mit 30 Karriere machen will, zieht nach Stockholm, wer ein Herz hat, nach Göteborg.
Da ist die Freundin, die lieber jobbt als in ihrem erlernten Beruf zu arbeiten und ihr Freund, der noch keine Aussicht auf eine Stelle nach seinem Doktorat hat. "Ich möchte niemals umziehen", sagt er dennoch. "Ich liebe meine alte Zweizimmer-Wohnung", sagt sie.
Da ist die Bekannte, die, knapp zehn Jahre jünger als ich, für eine prestigeträchtige Stelle nach Stockholm zieht und sagt "Ich werde Göteborg schrecklich vermissen".
Manchmal vergisst man uns auch
Manchmal finden es Leute interessant, dass ich von Schweden aus arbeite. Sie fragen mich, wo. “Göteborg”, antworte ich und meist kommt dann nichts mehr zurück. “Wir haben schon einen Kollegen in Stockholm”, antwortet die Redaktion einer großen Tageszeitung auf einen Pitch von mir. “Und der weiß auch, was im Rest vom 450.000 Quadratkilometern großen Schweden so vor sich geht und wie die 9 Millionen anderen Schwed_innen so drauf sind?”, frage ich mich.
Manchmal dann doch zu klein
Vor ein paar Monaten war ich seit langem mal wieder in Berlin. Was hat mich die Sehnsucht gerissen! Das gute Essen, die verschiedenen Menschen, die Größe der Stadt, in der man sich doch nie klein vorkommt. Als ich zurück kam, hieß mich das glitzernde, rote Herz in der Göteborger Innenstadt willkommen. Vielleicht passt die Stadt jetzt einfach besser zu meiner Philosophie: Forever inbetween. Vielleicht wachse ich irgendwann doch aus den hiesigen Strukturen heraus, aber momentan genieße ich es, wie viel leichter es in Göteborg ist, die einzige Regine Glaß zu sein.
Eure Top-3 der Beiträge aus sechs Monaten “Aus Versehen Schweden”
Wer mir auf Instagram folgt, hat sie schon gesehen, für alle anderen kommt hier noch einmal, was euch bisher am meisten gefiel:
Wie sich Schweden (nicht) für die Bundestagswahl interessiert, hat euch sehr interessiert.
Wie Berufsanfängerin Marie in einer Pandemie ihren Abschluss machte und wie es danach für sie weiter ging, habt ihr oft und gern gelesen.
Der jüngste Beitrag von Podcasterin Vanessa von “Läget” lockte viele neue Abonennt:innen und wurde von euch sehr oft gelesen.
Hast du auch Lust, einen Gastbeitrag für “Aus Versehen Schweden” zu schreiben? Prima, dann antworte mir gern einfach auf diese E-Mail. Wichtig ist dabei, dass es ein bestimmtes Thema gibt, für dass du wegen persönlicher Erfahrung Expert:in bist. Mach dir wegen geringer Schreiberfahrung keine Sorgen! Wir kriegen das zusammen hin.
Für was ich dieses Jahr Geld ausgab und wozu es führte
Vorneweg: Alles, von dem ich hier jetzt berichte, habe ich selbst gekauft und ich erhalte keinerlei finanziellen Vorteil von der Erwähnung, außer es handelt sich um mein eigenes Angebot. Ich würde nur gern mit euch teilen, woher meine Ideen so kommen:
Mit Master Class neue Gattung für mich entdeckt und Angebot erweitert: Roxane Gayes Master Class zu “Writing for Social Change” habe ich mir Anfang 2021 mit einer Freundin geteilt. Wenn man bereits schreibt, macht man den Kurs am Besten am Stück und erweitert seine Sichtweise und sein Repertoire. Für Anfänger_innen eignet er sich auch, aber dann kann man ihn auch gut über einen längeren Zeitraum absolvieren und zwischendurch ein paar erste Schritte wagen. Diese Master Class lehrt keine Details, sondern gibt sehr praktische Ratschläge zu den Gattungen Creative Non-Fiction und Fiction sowie zur Vermarktung des eigenen Schreibens. Mitgenommen habe ich davon den Mut, mich an persönliche Essays zu wagen sowie empathisches Feedback zu geben. Zwei indirekte Resultate: Mein erster, persönlicher Essay auf Englisch im pan-europäischen tema-Magazin: Are our bodies still normal?
Mein Mentoring-Angebot: Ich gebe 1:1 intensiv Feedback zu bestehenden Projekten und berate zu Strategien, ins Schreiben zu kommen. Und weniger Scham, einen Nebenjob zu haben. Roxane empfiehlt es sogar!
Außerdem habe ich ehrenamtlich eine Gruppe zum gemeinsamen Schreiben in Göteborg ins Leben gerufen und einen Adventskalender mit 24-Writing-Prompts auf Instagram geteilt. Die Schreibübungen kann man natürlich auch jetzt noch zwischen den Jahren oder wann auch immer mensch Zeit findet, nach holen.
Entgegen dem Vorsatz, nach über einen Jahr intensivem “Schwedisch als Zweitsprache”-Kurs mehr Bücher aus Freude zu lesen, wurde dieses Jahr das Jahr der intensiven Long-Reads (lange, journalistische Artikel). Meine Favoriten 2021 waren “The Rise of Therapy Speak” und “The Age of Reopening Anxiety” aus dem “New Yorker”, sowie der skurrile Internet-Hit “Who is the Bad Art Friend”?aus dem New York Times Magazine. Teilweise rechne ich diesem Lese-Konsum zu, dass meine beiden größten journalistischen Projekte dieses Jahr so viele Zeichen hatten, wie noch nie zuvor in meiner Karriere:
“Generation Merkel” hat insgesamt 20.000 Zeichen, fünf Videos und fünf lange Protokolle. Einen Trailer könnt ihr hier sehen. Ein Text über Antisemitismus in Deutschland hatte rund 8000.
Mit dem Buch “The Artist’s Way” von Julia Cameron (“Der Weg des Künstlers”) habe ich mich Anfang des Jahres nicht nur zu mehr Zeit abseits des Bildschirms gezwungen, sondern auch Blockaden gelöst, einen Newsletter sowie ein neues Essaybuch begonnen. Obwohl ich das 12-Wochen-Programm für ein kreativeres Leben teilweise auch wirklich etwas cringe fand, hat es den Hype darum absolut verdient. Habe es selbst als sehr günstiges E-Book gekauft.
Der Konsum von den Podcasts “Läget” und, “badass by nature” hat mir meine ersten beiden Podcast-Einladungen verschafft - plus Friends und Kontakte. Streng genommen war es hier nicht der Konsum, dass ich auffiel, sondern meine Instagram-Präsenz, die damals noch “bookishgoesskandi” hieß. Auf dieser zu fiesen Vergleichen einladenden Plattform möchte ich 2022 weniger Zeit verbringen, aber trotzdem mit euch connecten.