Aus Versehen Schweden

Share this post

Eine Reise zwischen den Sprachen

swedenbyaccident.substack.com

Eine Reise zwischen den Sprachen

Wie es ist, als Journalistin in Schweden zu arbeiten

Regine Glass
Jul 6, 2021
Share this post

Eine Reise zwischen den Sprachen

swedenbyaccident.substack.com

Hej, na? Urlaubsreif? Ich auf jeden Fall. Wir hatten turbulente Wochen hier in Schweden, die Regierungskrise fand ihren Höhepunkt, während in Deutschland der Wahlkampf tobt. Eine Kurzfassung dazu gibt es unten in den News, vertiefen werde ich die politischen Themen in den nächsten Briefen nach der Sommerpause. Der nächste Newsletter erscheint am Dienstag, 3. August. Heute gibt es einen Einblick, was mich seit Ende Mai so bewegt zu meinem Lieblingsnerdthema: Sprache.

Du träumst davon, auszuwandern, aber hast Angst davor, nicht gut genug in einer anderen Sprache als Deutsch zu sein? Angst, nicht gut genug kommunizieren zu können, nicht du selbst zu sein? Hat dein Job vielleicht mit Sprache zu tun oder stellt Sprache aus anderen Gründen einen wichtigen Bestandteil deiner Identität dar?

Ich kenne diese Bedenken nur zu gut! Sie sollten aber nicht der Grund sein, weshalb du deinen Traum vom Auswandern nicht erfüllst. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe schon zweimal die komplette Panik geschoben, und bin am Ende nur qualifizierter und gestärkter aus der Erfahrung herausgetreten.

Das erste Mal ist schon fast zehn Jahre her: Ich stand kurz vor dem Abschluss meines Bachelorstudiums in Germanistik und Soziologie, und hatte keinen richtigen Plan für danach. Während des Studiums hatte ich als Nachhilfelehrerin, an einem Forschungsinstitut, im Callcenter, als SEO-Texterin und freie Journalistin gearbeitet und es fiel mir (noch) schwer, mich als Forscherin, Texterin, oder Journalistin zu sehen – die Zukunft im Call-Center erschien mir am realistischsten. Damals war für mich die wichtigste Erfahrung der ersten Studienjahre eine fünfwöchige Reise von Istanbul nach Zagreb gewesen. Meine Mitbewohnerin und ich hatten nur Hin- und Rückflug gebucht. Alles dazwischen war ein Abenteuer mit dem Rucksack. Wir lernten die liebenswertesten Menschen kennen, mit denen sich Freundschaften entwickelten, die bis heute anhalten.

Wir unterhielten uns auf Englisch. In der Schule hatte ich Englisch-Leistungskurs gehabt, plötzlich geriet ich komplett ins Stocken, während ich einfach nur Small-Talk mit Leuten halten sollte. Die Schule und mein Universitäts-Studium hatten eine schüchterne Person mit Stock im Arsch aus mir gemacht, die sich nicht in Alltagsausdrücken unterhalten konnte.

Wieder zurück in Deutschland, beschloss ich etwas zu ändern: Ich belegte zwei Kurse am Institut für Anglistik in meiner Hochschule: Einen in Creative-Writing, und einen über „Anglo-Jewish-History“, weil deutsch-jüdische Literatur ohnehin mein Studienschwerpunkt war. Durch den künstlerischen Ausdruck und das viele Lesen auf Englisch zu Themen, die mich ohnehin interessierten, fand ich einen Zugang zurück zu der Sprache. Englischsprachige Filme und Serien sah ich mir nur noch im Originalton an. Das ist nämlich auch der Trick der “kleinen” skandinavischen Länder: Außer Kinderfilmen wird nichts synchronisiert.

Außerdem hatte ich mich sehr darüber geärgert, nie Zeit und Geld für ein Erasmussemester gehabt zu haben – ich absolvierte also nach Abgabe der Bachelorarbeit erst einmal ein Praktikum, das meinen inhaltlichen Schwerpunkt vertiefte: Am Galicia Jewish Museum in Krakau. Arbeitssprache: Englisch. Es war bis heute eine der besten Zeiten meines Lebens. Zunächst war ich super aufgeregt, dass ich auf Englisch durchs Museum führen, Materialien übersetzen und Pressemitteilungen schreiben sollte – aber wie bei (fast) allem im Leben gilt: Am besten lernt es sich in der Praxis.

Aber leider offensichtlich noch nicht nachhaltig. Ich kehrte nach dem Praktikum nach Berlin zurück, und machte einen Master auf Deutsch. Heute würde ich da anders vorgehen. Es wäre vorteilhafter gewesen, den Master schon in Schweden zu machen (ich freue mich, euch bald einen Gastbeitrag von einer zu präsentieren, die genau diesen Weg gegangen ist.) Aber ich steckte schon ein Jahr drin, als ich meinen Freund kennen lernte und Karriere war erst einmal wichtiger. Und zwar die nächsten sechs Jahre lang! Auch meine weiteren journalistischen Texte schrieb ich auf Deutsch, mein Volontariat machte ich auf Deutsch, als Redakteurin arbeitete ich in einer deutschen Redaktion. Nur meine Englischkenntnisse waren bei der Recherche und in Interviews mit internationalen Künstler_innen oder Besucher_innen in der Tourist_innenregion Harz, in die es mich damals verschlug, schon von Vorteil.

Erst nach meinem Auswandern nach Schweden begriff ich: Du hast ja ohnehin keine andere Wahl, als jetzt Schwedisch zu lernen. Diesmal ging ich die Sache weniger verkopft an: Erst kamen die Kneipen, und der Supermarkt, dann der Sprachkurs. Es sollte ohnehin erst einmal Alltagssprache sein.

Und dann kam Corona. Mein Fokus veränderte sich von: „Möglichst schnell irgendeinen Job finden“ zu „Möglichst schnell dazu qualifizieren, auch hier publizieren zu können“. In einer globalen Pandemie war es noch wichtiger als sonst, den Informationsfluss in mehreren Sprachen verfolgen zu können. Und eineinhalb Jahre später ist es nun so weit: Ich kann auch als freie Journalistin auf Schwedisch dazu beitragen. Die ersten Interviews auf Schwedisch habe ich bereits im April und Mai geführt. Den Text dazu auf Deutsch geschrieben. Besonders aufgeregt war ich nicht: Ich bin nun doch lebenserfahrener und abgebrühter als mit 23, aber zum Glück noch stur wie ein Esel. Die Erfahrung mit meinem Gegenüber zeigt: Die meisten Menschen sind dankbar, in ihrer eigenen Sprache antworten zu können und nicht auf Englisch.

Mit dem Schreiben ist es noch einmal eine andere Geschichte: Die Sprache ist dabei nicht die Hauptherausforderung. Manches kann ich schöner auf Schwedisch ausdrücken, manches ist etwas schwerer zu übersetzen. Aber das eigentlich spannende: Der journalistische Blick muss nicht nur in die Augen des Lesers gleiten, er muss auch den jeweils anderen, kulturellen Kontext mitdenken. Als freie Journalistin kommuniziere ich ja nicht nur mit meinen Interviewpartner_innen und der Tastatur, sondern auch mit der Redaktion und später der (schwedischen oder deutschen) Leser_in. Aber wie immer gilt: Nur, was du anderen in einfachen Sätzen erklären kannst, solltest du auch aufs Papier bringen. Die Reise zwischen drei Sprachen – Schwedisch, Englisch, Deutsch – erfordert viel Empathie und zwar im Sinne eines sich wirklichen Hinein Versetzens in das Gegenüber. Und das ist etwas, was ich ohnehin in Corona-Zeiten in einem neuen Land zur Genüge üben musste. Es gibt ein super schönes, schwedisches Synonym für Empathie: Inlevelse.


News aus Schweden Anfang Juli

Die Gesellschaft in Schweden öffnet sich bei weiterhin fallenden Zahlen. Ab 1. Juli sind unter anderem Demonstrationen bis zu 1 800 Teilnehmer_innen wieder möglich und private Veranstaltungen mit bis zu 50 Menschen.

Die 7-Tage-Inzidenz liegt mit 19, 7 jedoch noch deutlich höher als in Deutschland (4,9). Eine Reisewarnung vom Auswärtigen Amt gilt nur noch für die Regionen Kronoberg, Norrbotten und Värmland, wo sich die Deltavariante verbreitet.

Anders als in Deutschland wird weiterhin dazu aufgerufen, von zuhause aus zu arbeiten, wenn möglich.

Nachdem zum ersten Mal in der schwedischen Geschichte die Regierung in einem Misstrauensvotum abgewählt wurde, geht die schwedische Regierungskrise weiter. Anlass war ein Vorstoß zur Liberalisierung des Mietmarktes von der liberalen Partei Centerpartiet. Vorzeitige Neuwahlen oder eine neue Regierungsbildung: Im Moment ist beides möglich. Regulär steht die nächste Wahl in Schweden 2022 an.

Was ihr zuhause nachmachen könnt

Eine gute Urlaubslektüre plus passendem Film ist “Ein Mann namens Ove” von Fredrik Backman (2012). Er hat auch den Bestseller “Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg” geschrieben, ich halte “Ein Mann names Ove” allerdings für den viel, viel besseren Stoff. Die rührende Liebesgeschichte erzählt viel über den Wandel der schwedischen Gesellschaft in den letzten 50 Jahren.

Was es nur in Schweden gibt

Mein (bisher) liebstes Buch in schwedischer Sprache: “Ett nytt land utanför mitt fönster” (“Ein neues Land vor meinem Fenster”) von Theodor Kallifatides gibt es leider noch nicht in deutscher Übersetzung. Episodisch beschreibt der Schriftsteller darin seinen Weg von Griechenland nach Schweden, wie es war, zum allerersten Mal auf Schwedisch Gedichte zu verfassen und über die klägliche Erfahrung, auch nach etlichen Publikationen auf Schwedisch noch als “Einwandererschriftsteller” gesehen zu werden. In seinen Anekdoten zerlegt er ganz nebenbei Geschlechterrollen und nationalistisches Gehabe. Die gute Nachricht: Einige seiner Romane sind auf Deutsch erschienen.

Auf dem Foto: Die “Lättläst Version” (leichte Sprache), die ich mir aus Versehen bestellt habe. Gelesen habe ich es in der regulären, und Kallifatides Sprache ist verständlich und poetisch zugleich. Zum Sprachen lernen empfehle ich aber die “Lättläst”-Versionen, um die Blockaden abzubauen.

Share this post

Eine Reise zwischen den Sprachen

swedenbyaccident.substack.com
Comments
TopNewCommunity

No posts

Ready for more?

© 2023 Regine Glass
Privacy ∙ Terms ∙ Collection notice
Start WritingGet the app
Substack is the home for great writing