„Ein bisschen Gentrifizierung wäre vielleicht gut!“
Ein Gespräch mit Hamid über seine Kindheitswohnstätte Bergsjön
Auch das gehört zu Zuhause dazu: Wohnen in Schweden. In Göteborg, der Stadt in der ich lebe, gibt es die begehrten Innenstadtbezirke Högsbo, Majorna, Hisingen und Linné – und es gibt Angered, Bergsjön, Biskopsgården. Markante, große Plattenbausiedlungen, die mich an Berlin-Mahrzahn oder das Heckart-Gebiet in Chemnitz erinnern, und unter Expats sowie Göteborgern einen sehr schlechten Ruf genießen. Schlagzeilen machen sie vor allem dann, wenn es um Segregation, Integration und Clan-Streitigkeiten in Göteborg geht. Doch wie ist es, in diesen Orten zu leben? Das weiß Hamid am Besten, der mit zehn Jahren vom Iran nach Schweden kam und in Göteborg im Stadtteil Bergsjön den Großteil seiner Kindheit verbracht hat. Ich habe ihn interviewt, nach dem die Frage nach der Mietregulierung in Schweden eine Regierungskrise ausgelöst hat.
Wann bist du nach Bergsjön gezogen und wie lang hast du dort gewohnt?
1991 sind wir in Bergsjön gelandet, und damals habe ich nicht das Gefühl gehabt, dass dieses Viertel einen so schlechten Ruf hat. Damals gab es nicht so viele Migrantinnen dort, nur etwa 50 Prozent. Und ich fand die Atmosphäre sehr cool, ich hatte dort viele Freunde, auch viele schwedische Freunde, es war sehr gemischt. Das Gebiet ist sehr hügelig, hat auch viel Wald und einen superschönen See, alles ist sehr ideal und sehr schwedentypisch. Und die Plattenbauten, die fand ich schön! Heute finde ich sie vielleicht ein bisschen sowjetisch, aber damals fand ich die ziemlich schön. Wir haben in einem Plattenbau mit acht Stockwerken gewohnt, wir haben im fünften Stock gewohnt, mit richtig cooler Aussicht. Und was ich auch cool fand, war, dass ich mit meinem Fahrrad in fünf Minuten zum See fahren konnte. „Ich bin in der Schule in eine Klasse von Migranten gegangen, und erst ein Jahr später in die allgemeine Klasse gewechselt, und schon damals gab es diese Diskussionen um die „ethnische Segregation“. Es war Anfang der Neunziger Jahre und da gab es ja viele Probleme mit der Ökonomie, und viel Arbeitslosigkeit und viel Rassismus. Ich habe als Kind gemerkt, dass es viel Spannung gab, zwischen den Migranten und den Schweden. Aber in meiner Erinnerung als Kind war es keine Barriere, sondern wir haben alle zusammen gespielt.
Es ist gemischt gewesen. Heute ist es nicht so, denke ich. Ich habe keine Kinder, aber ich kann es mir gut vorstellen. Damals hat es auch passieren können, dass meine schwedischen Freunde von damals sagen konnte, „Oh, wir mögen Ausländer nicht“, aber sie wollten trotzdem mit mir Fußball spielen.
Ihr seid später aber nach Högsbo (relativ innenstädtischer Bezirk in Göteborg) gezogen. Warum und wie war das für dich?
Mein Vater hatte Angst, dass ich in gefährlichen Kreisen aufwachse. Ich hatte dort aber Probleme, Freunde zu finden. Nach einem Wasserleck in der Wohnung, musste er ausziehen und die Stadt hat ihm eine barrierefreie Wohnung in Landala im Zentrum gegegeben.
Das hat die Stadt einfach so gemacht?
Ja, das musste sie.
Im Gegensatz zu Deutschland verfügt Schweden über einen sehr stark regulierten Mietenmarkt. Die „Marknadshyra“, die vor ein paar Monaten wieder sehr stark in der Diskussion stand, und von der Regierung auf Druck von der Mieter_innenrechtsbewegung erneut abgelehnt wurde, ist in Deutschland Normalität. (siehe Infokasten) Wieso passiert es deiner Meinung nach trotz der Wohnraumknappheit in den Innenstädten nicht, das Leute in die Vororte zuziehen?
Es lohnt sich für authochtone Schweden heute nicht mehr, in die Vororte zu ziehen. Die Miete in Bergsjön entspricht wegen der Regulierung der Miete in der Stadtmitte. Die Regulierung ist ein zweischneidiges Schwert – wenn die Mieten in Bergsjön geringer wären, dann würde das vielleicht der Integration helfen. So lohnt es sich aber nicht, wenn man die Möglichkeit hat, nach Bergsjön oder in die Stadtmitte zu ziehen, die Vorortalternative zu nehmen.
In Berlin ist folgendes passiert: Neukölln war einmal ein Arbeiter_innenbezirk mit vielen Gastarbeiter_innen. Dann kamen die Künstler, dann kamen die Hipster und dann war es gentrifiziert – und die Mieten sind viel höher geworden. Inzwischen kann sich kaum noch jemand leisten, dort zu wohnen, weil es zu teuer geworden ist. In den Berliner Bezirken Kreuzberg, Neukölln und Wedding hat es eine Verdrängung derer gegeben, die dort ursprünglich gewohnt haben. Ich habe mich gefragt, ob das selbe nicht hier passieren könnte, dass Künstler_innen und Student_innen nach Angered oder Bergsjön ziehen. Wie würdest du das bewerten?
Ein bisschen Gentrifizierung wäre vielleicht gut! Aber es ist nicht einfach, deshalb bin ich kein Politiker (lacht.)
Mich hat deshalb ja gerade deine Perspektive interessiert, weil du im Gegensatz zu mir schon sehr lange in Göteborg wohnst, und in diesem Bezirk aufgewachsen bist. Wie hat der Bezirk seinen guten Ruf verloren? Wegen der Kriminalität?
Es war ein klassischer Fall von „white flight“. Wenn die Anzahl der Migrant_innen ansteigt, ich habe gelesen, dass dafür 10 Prozent reichen, dann ziehen viele Einheimische weg. Sie fühlen sich unsicher und dann ziehen sie aus, und dann gibt es freie Wohnungen. Dorthin kommen die neuen Migranten, das heißt, die Anzahl der Migranten wächst und löst eine Kettenreaktion aus. Am Ende hast du keine Einheimischen mehr da. Und das ist das, was in Bergsjön passiert ist.
1994 gab es in Bergsjön viel Angst vor Ausländern, weil es damals in Schweden nicht viele gab. Heute ist das anders: Ich denke, dass die Leute davor Angst haben, dass ihre Kinder nicht richtig Schwedisch lernen. In diesem Bezirk sprechen die Leute einen Soziolekt, der eine Mischung aus Schwedisch und anderen Sprachen ist.
Sowie das Kiezdeutsch in Deutschland. Ein Soziolekt, der in Kreuzberg und Neukölln gesprochen wird.
Vor sowas haben die Leute heute voll Angst hier! Damals war es etwas anderes, eine irrationalere Angst.
Hast du heute noch Freunde, die in der Gegend wohnen?
Nein, alle sind woanders hin gezogen.
Und war es für dich selbst jemals eine Option, als Erwachsener dort zu bleiben?
Ja, für mich schon. Als ich studiert habe, habe ich in Kortedala gewohnt, das liegt ja in der Nähe. Damals hatte ich keine Angst, dort zu wohnen. Heute habe ich mehr Zweifel darüber, wenn mich jemand fragt, ob ich mir vorstellen kann, dort zu wohnen. Wahrscheinlich zweifle ich mehr, weil man viel von der Kriminalität und so hört, ich habe es so verstanden, dass die Situation heute viel schlimmer ist.
Dinge, die man über den Wohnungsmarkt in Schweden wissen sollte
- “Millionenprojekt”: So wird ein Bauvorhaben der Sozialdemokraten in den 1960er bis 1970er Jahren bezeichnet, indem jedes Jahr 100 000 Wohnungen gebaut werden sollten, so dass es in 10 Jahren eine Millionen neue Wohnungen in ganz Schweden geben sollte. Ein Produkt davon sind die Plattenbauten in den Vororten.
- Mietregulierung in Schweden: Wer eine Wohnung “erster Hand” in Schweden mieten möchte, muss sich dafür zeitig auf einer Webseite registrieren und sich dann für verschiedene Wohnungen bewerben. Den Zuschlag erhält, wer bereits am längsten wartet. Was in der Theorie sehr gerecht klingt, führt dazu, dass Schwed_innen oft jahrelang auf die erste, eigene Mietwohnung warten müssen und mit illegaler Untermiete ein Schwarzmarkt betrieben wird. Oft melden Eltern ihren Kindern bereits in der Schule auf den Seiten verschiedener Städte an, damit sie als Erwachsene eine Wohnung mieten können.
- Im Juni gab es den Vorschlag der Zentral-liberalen Partei an die sozialdemokratische Regierung, die „Marknadshyra“ einzuführen, also die “Regulierung” durch die freie Marktwirtschaft, wie in Deutschland. Der Vorschlag wurde, auch auf den Druck der starken Mietervereinigung hin, abgelehnt, hat jedoch zu einer Regierungskrise geführt, in deren Folge Ministerpräsident Stefan Löfven zurückgetreten ist.
Was andere über die Vororte sagen
Tarek wohnte mit Frau und Kind in Bergsjön und zog drei Jahre später in einen Innenstadtbezirk.
Ich bin mit meiner Frau von Berlin nach Bergsjön in Göteborg gezogen. Sie hatte 2018 eine Wohnung dort erhalten, nachdem wir uns entschlossen hatten, ein Kind zu bekommen.
Ich mochte die Umgebung zuerst, weil es drum herum viel Grün gibt, Wälder und einen schönen, ruhigen See, wohin ich fast jeden Tag zu gehen pflegte. Die Wohnung war auch geräumig, im Gegensatz zu der kleineren Wohnung, die wir vorher in Berlin hatten.
Es war ein bisschen weit weg vom Zentrum und ich brauchte mindestens 35 Minuten, um dorthin zu kommen.
Es gibt fast nur Einwanderer in dieser Umgebung und nur ein paar Schweden, die aus Göteborg-Zentrum hierherziehen. Man hört dort kein Schwedisch, das hat mir nicht gerade dabei geholfen, die Sprache und Kultur in der neuen Gesellschaft kennen zu lernen.
Hampus wohnt allein in Biskopsgården und ist dorthin 2013 gezogen.
Ich bin 2013 dorthin gezogen, vor allem, weil ich dort eine Wohnung bekommen habe. Der Wohnungsmarkt in Göteborg ist sehr angespannt, und es ist schwer, eine Wohnung zu bekommen.
Es gibt eine gute Verbindung, es ist nah zur Natur, und mir gefällt die Umgebung. Es ist auch relativ billig, wenn man die Miete mit anderen Stadtteilen vergleicht, man bekommt mehr Wohnfläche für sein Geld. Ich habe ziemlich gute Nachbarn und bin hier wohnen geblieben, weil ich es mag. Der größte Nachteil ist, dass es Probleme gibt, und das eine kleine Anzahl von Leuten den Ruf und die Sicherheit der Umgebung beeinflusst.
Tipps zum Sprache lernen und fürs Schweden-Feeling zuhause
Die schwedische Serie “30 Grad im Februar” in der Arte-Mediathek schauen, gern auch auf Schwedisch mit deutschen Untertiteln. In zwei Staffeln geht es um Schweden, die aus den unterschiedlichsten Gründen nach Thailand ausgewandert sind. Dabei werden jedoch nicht nur schwedische Eigenheiten aufgezeigt, sondern ganz nebenbei geht es auch um die scheinbar so offene, und doch so vorurteilsbehaftete, schwedische Gesellschaft.
Was es (bisher) nur in Schweden gibt
Die vierte Staffel “Bonusfamiljen” läuft im schwedischen Sender Svt. Bisher sind alle Staffeln später in Deutschland auf Netflix zu finden gewesen.
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