Bonus statt Patchwork und Anarchie in der Liebe
Wie in schwedischen Serien ein progressiveres Familienbild als in Deutschland vertreten wird
Hej!
Ich freue mich, dass ihr da seid, bei diesem schönen Wetter, in den langen Sommernächten. Möchtet ihr euch ein wenig Schweden nach Hause holen? Habt ihr nach meinem letzten Newsletter vielleicht Blut geleckt und wollt jetzt ein bisschen schwedische Sprache hören? Ich habe da eine Idee für euch: Schwedische Serien. In Deutschland bekannt sind ja vor allem die schwedischen Krimiserien und Filme wie Kommissar Wallander. Ich habe Tipps für die, die sich eher in Familien- und Romantic-Comedy-Serien verlieren. Herausgepickt habe ich mir zwei Tipps, in denen das Thema des heutigen Newsletters interessant dargestellt wird: Das Bild des Feminismus in Schweden.
Da wäre zum einen „Bonusfamiljen“, das auf deutsch in „Die Patchworkfamilie“ übersetzt wurde. Als mir die Serie 2017 kurz nach dem Erscheinungsdatum von einer Freundin empfohlen wurde, gefiel mir der schwedische Titel vor allem sehr gut. Ich selbst bin, lange, ohne es zu wissen, in einer Patchworkfamilie aufgewachsen und als mir der Begriff zum ersten Mal begegnete, habe ich ihn eher als etwas Negatives empfunden: Irgendetwas zusammen verwoben, was nicht richtig zusammen passt. „Bonusfamiljen“ dagegen klingt nach dem, was es ist: Mehr Familie oben drauf als die biologische. Und manchmal mehr, als einer lieb ist. In „Bonusfamiljen“ ist es Katja (Petra Mede) und Martin (Erik Hallgren) definitiv zu viel, dass ihre ExpartnerInnen Lisa (Vera Vitali) und Patrik (Erik Johansson) kurz nach der Trennung zusammen mit den Kindern aus beiden Ehen in ein Haus gezogen sind. Als ein Schwangerschaftstest in der ersten Folge auch noch unfreiwillig verrät, dass Patrik und Lisa nun eigenen Nachwuchs erwarten, kommt es zum ersten handfesten Streit der frischgebackenen Bonusfamilie.
Die Serie hat als Haupthemen: Alltagsorganisation, Familienplanung und Einteilung der Sorgearbeit in einer Familie, die in drei getrennten Haushalten lebt. Diese Themen bieten eine hervorragende Plattform, um aufzuzeigen, wie diese in Schweden organisiert ist und welche Geschlechterrollen dahinter stehen. Lisas und Patricks Haus hat nur ein Kinderzimmer, in dem Patrick und Katjas artiger Sohn William (Jacob Lundqvist) und der temperamentvolle Eddie (Frank Dorsin) zusammen leben. Die fünfzehnjährige Bianca (Amanda Lindh) wohnt zusammen mit ihrem Vater Martin bei seiner Mutter und deren Lebenspartnerin Bigge (Marianne Mörck). Dort ist Eddie ebenso alle zwei Wochen zuhause wie William im schicken, clean eingerichteten Innenstadtappartment von Katja. Katja ist als “Karrierefrau” überzeichnet, Chefin und Workaholic. Lisa ist eben nicht, wie so oft in deutschen Serien dargestellt, das häusliche Äquivalent, sondern eine kreative, chaotische Wohnungsstylistin. Das genügt Katja dennoch zur Abwertung. Als sie erfährt, dass ihr Sohn mit William ein Zimmer teilt, bemerkt sie spitz: „Aber du musstest ja unbedingt ein Bastelzimmer haben“ über Lisas Arbeitszimmer, das zuhause liegt. Im Haushalt von Patrick und Lisa erledigt der Lehrer Patrick den Großteil der Hausarbeit, selbstverständlich sieht man ihn bügeln, kochen und Erziehungsarbeit erledigen, immer mit einem intellektuellen Mittelklassegehabe, dass er auf seinen streberhaften Sohn William übertragen hat. Lisas Ex, Martin, verkauft dagegen Betten in einem Einkaufszentrum und kann es sich mit seinem Einzelhändlergehalt nicht leisten, einen Kredit für eine Stockholmer Wohnung aufzunehmen. Mietwohnungen? Kann man in Schweden kurzfristig vergessen (Dem Thema der Mietwohnungen widmen wir uns in einer der nächsten Ausgaben ausführlich mit Expertinnen). Während Lisa, Patrick und Katja ein schickes, mittelständiges Leben in Vororten und der Innenstadt führen, mangelt es Martin und Bianca an Platz. Martin erlebt eine Demütigung nach der anderen. Während Patrick und William eher soft und intellektuell gezeichnet sind, stehen Martin und sein Sohn Eddie für einen eher rowdyhaften Männertyp. Zusammengeführt werden die beiden Familien nicht nur bei Geburtstagsfeiern und Elternabenden, sondern auch beim TherapeutInnenpaar Ylva (Ann Petrén) und Jan (Johan Ulveson). Die beiden ehemaligen Hippies reflektieren in der ersten Staffel der Serie amüsiert das Geschehen. Mittlerweile gibt es drei Staffeln auf Netflix. Ursprünglich ist „Bonusfamilje“ ein Produkt des Öffentlich-Rechtlichen schwedischen Fernsehens, svt.
Im November 2019 wurde bestätigt: Es wird eine vierte Staffel geben. Voraussichtlich kommt sie im Herbst 2021 heraus und für mich mit einem großen Wehmutstropfen: Petra Mede, die die kluge, witzige und böse Katja spielt, hatte zum Zeitpunkt der Dreharbeiten mit den Folgen einer Infektion mit Corona zu kämpfen und wurde deshalb mit Emma Peters ersetzt. Nichtsdestotrotz würde ich die Serie allen empfehlen, die sich einen Einblick in das schwedische Alltagsleben, Geschlechter- und Erziehungsrollen geben wollen.
Wie schwedisch „Bonusfamiljen“ ist, ist mir besonders aufgefallen, als ich aus Neugier in das Remake der ARD von 2019 hineingesehen habe. Das Drehbuch wurde hierfür 1:1 übernommen, doch weder übersetzt das steife deutsche Schauspiel von unter anderem Inez Bjørg David als Lisa und Lucas Prisor als Patrick den schwedischen Humor, noch sind die Lebensverhältnisse 1:1 von Stockholm auf den Berliner Speckgürtel übertragbar. Am deutlichsten wird das am Verhältnis von Katja und Lisa: Der in Schweden noch viel stärker als in Deutschland vorhandene Druck auf Menschen aller Geschlechter unter entspannteren Arbeitsverhältnissen Karriere zu machen mit gleichzeitigen besseren Rahmenbedingungen und besser aufgeteilter Sorgearbeit ist es, der die Beziehung dieser beiden Frauen im Original bestimmt. Diese Dynamik wirkt in den weitaus traditionelleren Geschlechterbeziehungen in Deutschland unverständlich und wie ein reiner „Zickenkrieg“. Wer aber genau an diesem Unterschied interessiert ist, findet die Serie in der ARD-Mediathek.
Die schwedische Schauspielerin Ida Engvoll ist mir schon in Bonusfamilje aufgefallen: Als Einkaufscenterkollegin und neue Freundin von Martin. In der ebenfalls schwedischen Serie „Kärlek und Anarki“, auf deutsch übersetzt, „Anarchie und Liebe“ hat sie nun eine Hauptrolle. Als Unternehmensberaterin Sofie hat sie die Aufgabe, einen alten, eher konservativen Buchverlag zu modernisieren und digitalisieren. Dieser Buchverlag trägt alle Figuren, um die tägliche Arbeit zu einem Kammerspiel unserer Zeit zu machen: Den alten, weißen Mann, der sich gern mit Autoren seinesgleichen die Klinke gibt, die Praktikantin, die sich um Social-Media kümmern soll und aufgrund dieser beiden Archetypen den Verlag vor einem Shitstorm nach dem anderen bewahren muss, die woke Kollegin und den sehr jungen IT-Techniker Max, der sich aus den politischen Streitereien am Arbeitsplatz meist heraushält. Jedoch nicht aus Sofies Leben: Die beiden beginnen bald ein Spiel, jeden Tag abwechselnd unangemessene Dinge im Büro zu tun. Was als eine kleine, flirty Abwechslung im Alltag beginnt, führt schließlich dazu, dass Sofie eine wichtige Unternehmenspräsentation rückwärts gehend hält und ihren Mann im Spa stehen lässt, statt mit ihm nach London zu ziehen. Als sie selbst zuhause das Rückwärts gehen durchzieht, ihr Sohn besorgt nach ihrem Verhalten fragt, antwortet ihr Vater: „Daran ist doch nichts Komisches“.
Das ist eine Art schwedischer Humor in dieser Serie, der sich nur schwer übersetzen lässt, deshalb empfehle ich ihn auf jeden Fall im Originalton mit Untertiteln zu schauen. Sofies Vater ist längst Non-Konformist in der Familie, den Sofie regelmäßig von der Polizeistation abholen muss, wenn er sich bei politischen Aktionen erwischen lassen hat. Das ist die schönste Botschaft an der Serie und damit die stärkste Aussage über Schweden und warum ich sie für diese Folge meines Newsletters ausgewählt habe: Das scheinbar perfekte Leben, mit Karriere und Kind unter einem Hut funktioniert eben nur, wenn man den Vertrag des Konformismus auch unterschreibt. Das anarchistische an Sofie ist sehr leise, sie kleidet sich seltsam für einen Tag, sie geht rückwärts, und löst allein damit Chaos in einem Kulturbetrieb aus. Der Konformismus sieht eben doch anders aus als das, was sich alte, weiße Männer darunter vorstellen.
Die beiden schwedischen Beispiele findet ihr auf Netflix, das deutsche in der ARD-Mediathek.
Wichtige Nachrichten (natürlich im Moment vor allem zur Covid-19-Lage) aus Schweden
Ungefähr die Hälfte aller Schwedi_innen ist mit Stand vom 11. Juni mit mindestens einer Dosis geimpft. Mit zwei Dosen geimpft sind mittlerweile etwa ein Viertel der schwedischen Bevölkerung. Am 10. Juni waren es 736 bestätigte Corona-Fälle in ganz Schweden. Laut John Hopkins-University hat Schweden im Moment eine 7-Tage-Inzidenz von 56, 8, also deutlich höher als in Deutschland, aber endlich mit Tendenz fallend. Schweden gilt deshalb auch für Deutschland „nur noch“ als Risikogebiet, nicht mehr als Hochinzidenzgebiet, deshalb ist die Einreise mit negativem Corona-Test, aber ohne Quarantäne möglich.
Was ihr zuhause
nachmachen könnt
Vegetarische Köttbullar zu Midsommar. Es wird in diesem Jahr am Freitag, 25. Juni, stattfinden. Es ist mein liebstes Fest des Jahres, und etwas, was ich mir in Deutschland immer gewünscht habe: Ein Feiertag mitten im Sommer. Es ist das Fest der Sommersonnenwende, das Zelebrieren der längsten Nacht des Jahres, am besten an einem See, in dem sich ein zartlila Sonnenuntergang spiegelt. Das Essen ist das gleiche Festessen wie zu jedem schwedischen Feiertag: Hering in Dillsauße, Köttbullar, Kartoffelsalat und grüner Salat, eventuell Schinken und Räucherlachs. Die Köttbullar werden extra für mich in vegan gemacht. Ein bei uns zu Weihnachten und Midsommar etabliertes Rezept gibt es hier: Du brauchst: 400 Gramm formbares Veggie-Hack, zwei Esslöffel Hafersahne, eine Zwiebel, ein Teelöffel dunkle Sojasoße, eine halbe Messerspitze Piment, vegane Butter zum Braten, Salz und Pfeffer. Die Herstellung geht analog zu Hackbällchen: Zwiebel sehr fein hacken, während das Veggie-Hack auftaut. Alle Zutaten inklusive Zwiebel mit dem „Hack“ vermischen und abschmecken. Mit der Hand kleine Bällchen mit etwa zwei Zentimeter Durchmesser formen. Mit der veganen Butter in der Bratpfanne auf hoher Temperatur braten, bis sie Form und Farbe annehmen. Achtung: Die Zubereitung ist speziell für formbares Veggie-Hack gedacht. Wer nur das Gewöhnliche hat und nicht vegan oder glutenunverträglich ist, kann es mit Ei und/oder Paniermehl mischen, bis es „klebt“. Wichtig als Dessert: Die im letzten Newsletter erwähnten schwedischen Erdbeeren mit Eis oder Sahne. Obwohl Midsommar in Deutschland kein Feiertag ist, könnt ihr bis auf die Erdbeeren an einem See, Garten oder im Park eurer Wahl alles nachmachen.
Fast, denn:
Was es nur in Schweden gibt
Was auch auf das Midsommarbuffet gehört: Schwedische Kartoffeln, die sogenannten „färskpotatis“. Am 3. Mai wurden sie in diesem Jahr zum ersten Mal geerntet. Eigentlich absolut kein Kartoffelfan, finde ich diese kleinen, dreckigen Dinger sehr aromatisch. Man muss sie allerdings gut waschen, bevor sie geschält und weiterverarbeitet werden können, zu Ofen-oder Salzkartoffeln. Zum Glück muss ich mich um alles, was mit schwedischem Essen zu tun hat, in unserem Haushalt nicht kümmern…