Aus Versehen Lehrerin in Schweden
Wie Amélie Reichmuths Erfahrung als Lehrerin ihren Blick auf das schwedische Schulsystem für immer veränderte
Ein Gastbeitrag von Amélie Reichmuth. Sie ist Freelance-Journalistin, Content-Copywriter und Übersetzerin und lebt in Stockholm. Ihr erster Job in Schweden war Deutsch-Lehrerin. Der Job ist für viele Deutsche die erste Wahl und vermeintlich leicht zu bekommen und auszuführen. Über das schwedische Schulsystem lernte sie jedoch so manche Besonderheit kennen.
Seit wann bist du in Schweden? Wieso bist du hierher gezogen?
Zwei Fragen, die für Zugewanderte Alltag sind. Normalerweise antworte ich immer, dass ich zuerst als Austauschstudentin gekommen bin, bevor ich in Stockholm meinen ersten Job nach dem Studium gefunden habe. Wenn ich Lust darauf habe, erzähle ich lieber die wahre Geschichte, denn Schweden und ich, das war schon immer eine innige Fernbeziehung.
Geboren wurde ich eigentlich vor 29 Jahren in Frankreich, an der Küste in der Normandie, in einer deutsch-französischen Familie, in der man die Liebe zu Sprachen und Büchern schon im Kindesalter pflegte. So bin ich sowohl mit Tim und Struppi, Astérix, und dem kleinen Nick als auch mit dem Struwwelpeter, Emil und den Detektiven, und den Märchen der Gebrüder Grimm aufgewachsen. Dazu gab es noch Klassiker aus der schwedischen Kinderliteratur wie Willi Wiberg oder Pettersson und Findus, die meine Schwester und ich als Geschenk aus Deutschland bekommen hatten, denn sie waren ins Französische noch nicht übersetzt worden und daher kaum bekannt auf der anderen Seite des Rheins.
So wurde Pippi Langstrumpf die größte Heldin meiner Kindheit, weil dieses rebellische Mädchen für mich eine Freiheit verkörperte, die man als Kind in Frankreich sonst kaum genießen darf. ,,Wenn ich groß bin, dann mach’ ich’s mir wie die Pippi, ich mach' mir die Welt, widdewidde, wie sie mir gefällt…” habe ich mir öfter mal gedacht.
Deshalb stellte ich mir Schweden wie ein Kinderparadies vor, in dem man wild und frech leben darf, frei von jeder Form von Autorität und Diktat. Mit anderen Worten: Schweden war durch diese rosarote Brille eine fröhliche Anarchie in meinen Augen, in der es verboten war, zu verbieten. Dieses Bullerbü-Syndrom zerplatzte allerdings vor vier Jahren, als ich nach dem Studium nach Schweden auswanderte, um als Lehrerin zu arbeiten.
Stelle als Vertretungslehrerin
Damals hatte ich eine Stelle als Vertretungslehrerin am Lycée Français gefunden und sollte nun Deutsch als Fremdsprache für ein Jahr unterrichten. Im Rucksack hatte ich nur eine Juleica (juleica.de), denn ich hatte Politikwissenschaft studiert und wäre eigentlich am liebsten Diplomatin geworden. Dies war doch kein Grund für mich, das Jobangebot abzulehnen, und ganz wie die Pippi hatte ich mir gedacht ,,das habe ich noch nie vorher versucht, also bin ich völlig sicher, dass ich es schaffe!".
Dabei hatte ich völlig unterschätzt, wie groß der Kulturschock sein würde. Es ist eine Sache an sich, ein Land als Austauschstudentin kennenzulernen; es ist tatsächliche eine andere, es als Berufstätige neu zu entdecken, vor allem wenn man eine Vorbildfunktion übernehmen muss. Da ich keine ausgebildete Lehrerin war, habe ich am Anfang vieles ausprobiert, um zu lernen, wie man als ausländische Lehrkraft im schwedischen Schulsystem navigieren kann. Die Übung macht den Meister und so habe ich Schritt für Schritt verstanden, wo die unsichtbaren Grenzlinien innerhalb der schwedischen Gesellschaft laufen.
Dieser Entwicklungsprozess hat bei mir viel mit Kommunikation zu tun gehabt, vor allem was die Feedback-Kultur angeht: Wo man in Deutschland direkt zur Sache kommt und sich ruhig erlauben kann, offene Kritik zu äußern, solange sie sachlich bleibt, muss man in Schweden aufgrund der Konsenskultur viel vorsichtiger vorgehen. Der sogenannte ,,Åsiktskorridor” (etwa der Meinungskorridor) ist in Schweden viel schmaler, sodass man sich auf dünnes Eis bewegt. So habe ich gelernt, mein Feedback möglichst konstruktiv zu formulieren, indem ich zuerst das Problem nenne, daraufhin erkläre, weshalb es ein Problem ist, bevor ich einen Lösungsvorschlag formuliere.
Kind im Zentrum, Gleichberechtigung und Kund_innenmentalität
Als Hobbyethnologin habe ich mittlerweile so viele Beobachtungen und Überlegungen gesammelt, dass ich ein ganzes Buch darüber schreiben könnte. Was das schwedische Schulsystem betrifft, sehe ich drei wesentliche Merkmale: Zunächst einmal, die Tatsache, dass das Kind immer im Zentrum steht; dann, die daraus folgende Gleichberechtigung zwischen SchülerInnen und LehrerInnen; und zum Schluss, die Kund_innenmentalität, die viele schwedische Eltern im Laufe der letzten Jahre entwickelt haben.
Was Kinderrechte angeht, ist Schweden historisch betrachtet immer ein Vorreiterland gewesen und hat z.B. am 1. Juli 1979 als erstes Land weltweit die Kindesmisshandlung vollständig verboten. Das gilt heute noch, besonders im Vergleich zu Deutschland. Das spiegelt sich natürlich auch im Schulsystem wider: Der Fokus steht nicht nur auf die schulischen Leistungen, sondern auch auf der persönlichen Entwicklung aller SchülerInnen, sodass eine der Hauptaufgaben der LehrerIn darin besteht, auf die individuellen Bedürfnisse jedes Einzelnen einzugehen. Nur so könne ein Kind sich als Person voll und ganz verwirklichen.
Das klingt erstmal ganz nett und äußerst wichtig, gar keine Frage. Allerdings waren sich meine SchülerInnen schon früh dessen ganz bewusst, dass sie Grundrechte hatten, und meldeten sich rasch zu Wort, um sie zu verteidigen, wenn ich mich für schwedische Verhältnisse untypisch verhielt: ,,Frau Reichmuth, dies und jenes dürfen Sie nicht, Sie haben kein Recht darauf!”.
Clash von schwedischen und deutschen Ansprüchen
Diese Bemerkungen galten ganz normale Erwartungen aus deutscher Sicht: Dass man Hausaufgaben bekommt beziehungsweise macht, dass man sein Schulmaterial immer dabei hat, oder dass es irgendeine Form von Konsequenz hat, wenn man sich nicht an die Regeln hält.
Als ich zum Beispiel eine Familie anschrieb, nachdem der Sohn zum dritten Mal seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte beziehungsweise sein Buch immer wieder vergaß, um zu fragen, ob zu Hause alles in Ordnung sei, bekam ich eine passiv aggressive Antwort, unter dem Motto ,,Was ist das für eine komische Frage?”.
So war ich am Anfang ganz baff und hatte das Gefühl, ich sei eine Dirigentin, die jeden Tag ein Wunschkonzert spielen soll. Wussten die schwedischen Kinder denn nicht, dass Rechte auch Verpflichtungen mit sich bringen? Als Kind war ich selbst mit der Idee aufgewachsen, dass man nur Lob und Anerkennung bekommt, wenn man was leistet.
So lernte ich, meine Autorität als Lehrerin zu hinterfragen und sie nicht als Naturgesetz zu betrachten, sondern das Vertrauen und den Respekt meiner SchülerInnen zu gewinnen, indem ich immer wieder erklärte, wieso, weshalb, warum ich dies und jenes tat. Diese Einstellung war auch sehr hilfreich, um mit ihren Eltern umzugehen.
Ähnlich wie in Deutschland gibt es nämlich jetzt eine ganze Generation von Helikoptereltern. Hinzu kommt in Schweden, dass das Bildungssystem in den letzten dreißig Jahren stark privatisiert wurde. So ist es seit 1992 erlaubt, Schulen in privater Trägerschaft zu gründen, die allerdings durch einen kommunalen Beitrag finanziert werden. Verlässt ein Schüler die Schule, verliert sie auch diesen Beitrag, was zu einer Marktlogik und viel Wettbewerb innerhalb des schwedischen Schulwesens führt.
Das habe ich als Lehrerin oft gespürt, als zum Beispiel die Eltern darauf bestanden, dass ich eine Klassenfahrt nach Deutschland organisierte, obwohl ich gerade in Schweden gelandet war und nicht mal die Sozialversicherungsnummer bekommen hatte. Diese Kundenmentalität auf Seite der Eltern führte zu dramatischen Folgen für mich: Vier Monate nach meiner Ankunft in Schweden wurde ich mit einer Depression diagnostiziert, in der der Auslöser mein Job als Lehrerin war.
Durch diese Erfahrung und die Psychotherapie, die daraufhin begann, würde ich rückblickend sogar behaupten, diese Tätigkeit als Lehrerin ist die bestmögliche Vorbereitung auf meine spätere Arbeit als Kundenbetreuerin bei einer schwedischen Firma gewesen.
Durch diese Erfahrung habe ich paradoxerweise gelernt, dienstleistungsorientiert zu arbeiten, indem ich mich ständig bemüht habe, die Erwartungen anderer Menschen zu erfüllen, damit sie zufrieden sind. Dabei war es eine große Hilfe, meine eigene Wunschvorstellung zu hinterfragen und einzusehen, dass Schweden mittlerweile das liberalste Land Europas ist, sowohl politisch als auch wirtschaftlich - Eine Art Wilder Westen im hohen Norden.
Das ist schon vier Jahre her, aber diese allererste Berufserfahrung in Schweden hat meinen Blick auf das schwedische Schulsystem für immer verändert: Ich habe die rosarote Brille endlich mal abgesetzt und trage nun eine neue, bunte Brille. Jetzt weiß ich, dass das perfekte Schulsystem und das perfekte Land eine Illusion sind. Vielmehr geht es mir darum, in dieser komplizierten Welt meinen eigenen Weg zu finden, ein Schritt nach dem anderen. Das ist vielleicht die wichtigste Lehre dieser ersten Erfahrung in Schweden: Dass die Reise eigentlich das Ziel ist.