Aus Versehen ein Jahr Freelance in Schweden
Wie und warum ich mich vor einem Jahr aus der Not heraus selbstständig machte
Seit einem Jahr bin ich jetzt offiziell selbstständig. Das ist in Schweden einfacher als in Deutschland. Es fühlt sich manchmal an, als hätte ich in der Lotterie des Lebens gewonnen und tue genau das Richtige am richtigen Ort. Manchmal ist es ein Kampf mit Behörden und um Rechnungen. Und dann versteht auch noch kaum einer, was ich eigentlich den ganzen Tag lang tue. Was ich in einem Jahr als Freelancejournalistin in Schweden gelernt habe.
5. November 2020 steht auf dem Zettel und „Konstnärlig litterarisk verksamhet (även frilansjournastik)”. Das heißt übersetzt: „Künstlerisch-literarischer Betrieb (auch Freelancejournalistik)“. Das war ein Riesenglücksmoment für mich, als ich diesen Brief, der meine Firmenregistrierung in Schweden bestätigte, vor genau einem Jahr endlich in den Händen halten konnte. Auch, weil ich endlich Rechnungen stellen konnte. Aber vor allem, weil das der Beruf ist, den ich als Kind wahrscheinlich immer haben wollte, von dem ich nur nicht wusste, wie er heißt. Es war ein Jahr, indem ich viel mehr über mich selbst gelernt, an Selbstbewusstsein gewonnen habe und mich in allen Facetten meiner Kunst ausleben durfte wie je zuvor in meiner Karriere.
Gekommen ist das so: Ich habe meine Festanstellung als Redakteurin in Deutschland gekündigt und bin nach Schweden ausgewandert. Plan: Erst einmal irgendeinen Job machen und nebenbei die Sprache lernen. Little did I know. Nach zwei Monaten fröhlich das Leben genießen und einen Monat lang SFI (Schwedisch für Einwanderer) in der Schule, verbreitete sich Covid-19 in der ganzen Welt, wir lernten digital weiter und meine Bewerbungsverfahren wurden „auf unabsehbare Zeit“ pausiert.
Zunächst konzentrierte ich mich voll und ganz auf den Schwedisch-Unterricht. In Schweden kann man staatlich finanziert Vollzeit Schwedisch lernen, wenn man das will, und wer sich irgendwie Essen und Miete finanzieren kann (ich konnte das durch EU-ALG1 und Erspartes), dem würde ich das, solange es geht, auch empfehlen.
Als der Frühsommer 2020 kam und ich meine Wohnung in Deutschland auflösen musste, und mir das Geld ausging/gestrichen wurde (ich weiß, dass es in Deutschland verlängert wurde, aber nicht für mich, weil „selbst schuld, dass ich im Ausland lebte“), packte mich die Panik. Ein paar Monate könnte ich noch gerade so überbrücken, aber dann? „Warum arbeitest du nicht einfach in dem Beruf, den du gelernt hast?“, fragt mich mein Partner und Recht hatte er. Nicht, dass mir der Gedanke nicht schon gekommen wäre, aber mir fehlte der Mut. Viel zu wenig wird erwähnt, was es für einen enormen Unterschied macht, wenn man bei der Business-Gründung einen unterstützenden Partner an seiner Seite hat, sowohl ökonomisch als auch psychologisch. Das war der wichtigste Unterschied zu meinem ersten Versuch 2015, mich in Deutschland selbstständig zu machen. Der zweite war, dass man durch eine nationale Krankenversicherung in Schweden versichert ist, wenn man mit Personnummer (Sozialversicherungsnummer, aber anders) angemeldet ist. Das führt zu einer enormen Kostenersparnis. Die magische Nummer zu erhalten ist jedoch nicht einfach und eine Geschichte für einen anderen Tag. Der dritte waren fünf weitere Jahre Arbeitserfahrung in der Medienbranche, 4,5 davon in Festanstellung, die dazwischen lagen.
Von einem Tag auf den anderen beschloss ich, als Freelance-Journalistin zu arbeiten. Ich knüpfte an alte Kontakte an und veröffentlichte schon bald meinen ersten Artikel als Freelancerin in Digitale Provinz. Ich machte aber auch die typischen Anfänger_innenfehler: Mein allererster Auftrag als Freelancerin war eine Pressemitteilung, die ich über Nacht schreiben sollte, für ein viel zu geringes Honorar - das bis heute nicht bezahlt wurde. Es lohnt sich aber nicht, es über Ländergrenzen hinaus einzutreiben. Naja, Lehrgeld. Dafür kam schon im November der erste vierstellige Auftrag. Texten für eine Website. Der für mich größte Meilenstein: Im Juli 2021 habe ich das erste Mal auf meiner neuen Zweitsprache Schwedisch publiziert. Es folgten drei weitere Artikel und der vierte ist gerade in Arbeit.
Worauf ich stolz bin: Dass ich bereits ab Tag 1 meiner Entscheidung jeden Monat mindestens einen Auftrag hatte. Wer selbst selbstständig ist, weiß, dass das nicht selbstverständlich ist. Das liegt unter anderem auch daran, dass ich mich entgegen aller Guru-Rufe dafür entschieden habe, nicht alles auf eine Karte zu setzen. Journalistik, Texten und Übersetzen, das sind die drei Säulen, auf denen mein Business erst wackelig, und jetzt jeden Tag stabiler steht. Dass ich auch Schreib-Mentorings und Workshops zu gendergerechter Sprache für Firmen anbiete, gehört für mich dazu, aber mich allein darauf zu konzentrieren, wäre mir zu unsicher – und vor allem würde ich das Schreiben vermissen!
Seit Juli arbeite ich zusätzlich angestellt acht bis zehn Stunden pro Woche als Copywriterin und Übersetzerin bei einer schwedischen Firma. Wir sollten insgesamt mehr darüber sprechen, wie schwierig es ist, allein von Texten zu leben. Zum Glück werden Freelancer bei schwedischen Medien oft deutlich besser bezahlt als in Deutschland. Aber es gibt deutlich Luft nach oben.
Weil es manchmal von der Themenidee zum Pitch bis zum Veröffentlichungsdatum etwas länger dauern kann, habe ich ab März besondere Maßnahmen ergriffen, um im Schreibfluss zu bleiben: Jeden Morgen um 9 Uhr, wenn ich kein anderes, wichtiges Meeting habe, nehme ich an der London Writing Hour teil und schreibe- manchmal Essays für mein nächstes Buch, manchmal Artikel, meistens Pitches oder Newsletter. Begleitend las ich „The artist’s way“ von Julia Cameron (auf Deutsch unter dem Namen „Der Weg des Künstlers“ erschienen). Das ist ein zwölf-wöchiges Programm in Buchform, das Schritt für Schritt dazu verhilft, der Kreativität Eingang in sein Leben zu verschaffen oder bei professionellen Kreativen Blockaden zu lösen. Spirituelle Töne darin habe ich überhört. Die etwas arg kapitalistischen Stellen zum Kauf von Dingen und der Macht der Anziehung auch. Methoden wie die „Morgenseiten“, „Künstlerdates mit mir selbst“, ein Ziel in Drei-Monats-Schritten zu verfolgen, habe ich aber erfolgreich umgesetzt.
Und so ist „Aus Versehen Schweden“ entstanden. Ein Projekt, das euch dienen soll, die ihr ein tieferes Interesse an Schweden habt, selbst als Kreative hier lebt oder leben wollt, oder einfach neugierig mal schauen möchtet, wie das im Norden in Bezug auf Feminismus, Politik und Gesellschaft so läuft, entgegen von Fortschrittlichkeitsklischees. Und komplett egoistisch mache ich das hier auch für mich. Weil ich einfach 50 Prozent meines Lebens mit Schreiben verbringen muss. Der Rest sind Administration, Akquise, Leuten hinterhertelefonieren, Recherche, Exceltabellen, Hausarbeit – und nur das schöne Leben.
Was du zuhause nachmachen kannst
Es hilft, sich Ressourcen von anderen Freelancer_innen zu holen, wenn man sich selbstständig macht. Die Podcasts “The writing-coop” , “Is this working”und die Newsletter “The Writing Life” und “Lance” sind drei Quellen, die allesamt auch ehrlich in Bezug auf Probleme, Glück und Privilegien in der Arbeitswelt sind. Werte, die mir in der Kommunikation sehr wichtig sind. Die meisten Ressourcen zum Thema sind Englisch, ich habe den Eindruck, die deutsche Autor_innenwelt hängt da noch etwas hinterher mit der Ehrlichkeit.
Was es nur in Schweden gibt
Ein Schwedenhäuschen als Home-Office. November 2020 bis März 2021 haben mein Freund und ich dort gelebt und gearbeitet.
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