Oslo/ Ein Gastbeitrag von Maren Tanke
So lange ich mich erinnern kann, gab es für mich immer nur ein Ziel meiner Träume: Schweden. In meiner Wunschvorstellung lebte ich irgendwann in einem roten Holzhäuschen mitten in der schwedischen Einsamkeit, mit einem glasklaren See vor der Haustür und glücklichen Menschen als Nachbarn. Ich träumte von hellen Mittsommernächten und dunklen Wintertagen. Mit Ende 20, nach dem plötzlichen Tod meines Großvaters, fasste ich einen Entschluss: »Wenn nicht jetzt, wann dann?«
Ich kündigte meine Festanstellung als Grafikdesignerin in Berlin und wanderte aus. Mit 15 Umzugskartons, sieben Zimmerpflanzen, drei prall gefüllten Koffern und zwei flauschigen Meerschweinchen. Wandert man aus, dann oft aus einem von drei Gründen: Entweder man zieht ins Ausland für das Studium, eine neue Arbeitsstelle oder die Liebe. Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes aus Versehen der Liebe wegen in Norwegen gelandet. Als ich vor vielen Jahren in Oslo Urlaub machte, stand er vor mir: Der Mann, für den ich letztlich aus Liebe ausgewandert bin. So ging es nicht nach Schweden, sondern Norwegen.
Trotz der anfänglichen Euphorie über meinen Mut und das Zusammenleben mit meinem Freund gab es vor allem im ersten Jahr nach meiner Auswanderung Tage, an denen ich meine Heimat sehr vermisste. Meine erste Festanstellung in Norwegen wurde zum Desaster. Noch nie zuvor hatte ich erlebt, was ich hier erlebte: Ich wurde von einer Kollegin gemobbt. Schwärmten nicht alle von den besseren Arbeitsbedingungen in Skandinavien? War es wirklich richtig auszuwandern und alles hinter mir zu lassen? Je schwieriger die Situation bei der Arbeit für mich wurde, desto öfter zweifelte ich an meiner Entscheidung. Bis es schließlich mit voller Wucht aus mir herausbrach und mich die erste Panikattacke meines Lebens heimsuchte. Ich verbrachte mein erstes Weihnachtsfest in Norwegen vollkommen erschöpft, ohne jegliche Energie den Weg zu meiner Familie in Deutschland auf mich zu nehmen. Bis ich die Notbremse zog. Und noch in der Probezeit kündigte.
Der Sprung in die Selbstständigkeit
Nach weiteren Festanstellungen, in denen ich trotz netter Kolleg:innen nie richtig zufrieden war, beschloss ich im Januar 2020, mich als Grafikdesignerin selbstständig zu machen. Auch in Deutschland hatte ich häufig damit geliebäugelt, den Sprung aber nie gewagt. In Norwegen ist es wesentlich unkomplizierter ins Freelancerinnen-Dasein zu wechseln. Zum Beispiel fallen die hohen Kosten für die Krankenkasse weg, da diese in der Steuer enthalten sind. Bis heute bereue ich meine Entscheidung nicht.
Inzwischen arbeite ich selbstständig für mehr norwegische als deutsche Kunden und Kundinnen und genieße die (meistens) entspannte Zusammenarbeit. Die freie Zeit nach der Arbeit wird in Norwegen meines Erachtens mehr geschätzt als in Deutschland. Wenn ich für drei Wochen im Voraus ausgebucht bin, wird das akzeptiert. Niemand erwartet, dass ich mir die Nächte um die Ohren schlage, nur um ein Projekt unter Hochdruck abzuliefern.
Sprache lernen als Schlüssel
Warum die Zusammenarbeit überwiegend so gut funktioniert? Vom ersten Tag meiner Auswanderung war es mir wichtig, Norwegisch verstehen und sprechen zu können. Aufgrund eines sehr kurzen Skandinavistikstudiums in jungen Jahren verfügte ich über grundlegende Schwedisch-Kenntnisse. Zusätzliche belegte ich einen dreiwöchigen Norwegisch-Intensivkurs an der Volkshochschule in Oslo. Heute spreche ich ein immerhin fließendes Kauderwelsch aus Schwedisch und Norwegisch, gespickt mit feinstem norddeutschem Dialekt.
In Norwegen riechen die Sommer anders
Vor allem wegen der anfänglich beruflichen Herausforderungen vermisste ich meine Freundinnen oft schmerzlich. Sie waren in Deutschland. Ich in Norwegen. Sie waren in Berlin. Ich in Oslo. Uns trennten mehr als 1.000 Kilometer Luftlinie. Tränen rannen täglich über meine Wangen. Ein stechender Schmerz durchzog meinen Körper, von den Füßen bis in die Haarspitzen. Meine Seele tanzte noch in Berlin. Enge Freunde und Freundinnen in Norwegen zu finden, stellte sich schwieriger heraus als ich es aus der Heimat kannte. Die Leute in Norwegen sind grundsätzlich sehr freundlich. Freundschaften zu etablieren, die nicht nur an der netten Oberfläche kratzen, kostet aber ebenso viel Energie wie Ausdauer.
Ich erinnerte mich oft an Nachmittage im Freibad unter der Weite des ostfriesischen Himmels, wo ich aufwuchs. Ich erinnerte mich an das Kaufen der gemischten Tüte und Pommes rot-weiß. An den unvergleichlichen Geruch der Sommer meiner Kindheit aus Frittierfett, Chlor, sonnenverbranntem Rasen und Sonnencreme von Nivea. In Norwegen riechen die Sommer anders. Im Laufe der Jahre wurde ich beim Gedanken an meine Heimatstadt Berlin immer wehmütiger. Ich vermisste den Geruch der Linden im Frühling, den des Sommerregens und den der frisch gewaschenen Haare meiner Freundin.
Der Schmerz geht, das Heimweh bleibt
Fünf Jahre nach meiner Auswanderung nach Norwegen gibt es nach wie vor Tage, in denen ich Berlin und Ostfriesland, meine Freundinnen und Familie vermisse. Je länger ich in Norwegen lebe, desto geborgener fühle ich mich aber. Wie mit allen Gefühlen nach der Auswanderung führt kein Weg daran vorbei, auch mit dem Heimweh geduldig umzugehen. Bis das neue Land zum Zuhause wird und die Straßen, die man täglich geht, genauso vertraut sind wie die in der Heimat. Mein Leben in Norwegen ist nicht besser als in Deutschland. Es ist vor allem eins – anders. Aber die Sehnsucht bleibt … für immer?
Autorinnendasein mit Blog und Roman als Ziel
Gleichzeitig zum kalten Sprung in meine Selbstständigkeit gründete ich meinen Blog neuschnee.no. Ich schreibe über das, was mich bewegt, meine Auswanderung ins Land der Fjorde, Mitternachtssonne und Nordlichter und meine Suche nach Heimat, Stille und dem (vermeintlich) typisch skandinavischen Glücksgefühl. Immer ehrlich. Immer persönlich. Und manchmal sogar poetisch angehaucht – mit allen Höhen und Tiefen, die zum Auswandern dazugehören. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann wünsche ich mir, dass ich in Zukunft noch mehr Zeit für das Schreiben finde und am Ende dieses Wunsches die Veröffentlichung eines Romans steht.
Über die Gastautorin der heutigen Ausgabe
Ich bin Maren, Mitte 30, auf den ersten Blick eher leise als laut, weltoffen, detail- und wortverliebt. Vor fünf Jahren bin ich von Berlin nach Norwegen ausgewandert. Ich arbeite als freie Grafikdesignerin und Autorin für deutsche und norwegische Kunden und Kundinnen.
News aus Schweden
Auch bei uns beginnen die Corona-Zahlen wieder zu klettern, jedoch liegen sie noch deutlich unter den Infektions- und Intensivbettenzahlen in Deutschland oder Österreich. Die Restriktionen gelten seit Ende September weiterhin nicht mehr für alle, jedoch für Ungeimpfte. Wer Symptome verspürt, soll weiterhin daheim bleiben. Staatsepidemologe Anders Tegnell hat der Financial Times gegenüber aktuell gesagt, dass er davon ausgeht, dass auch in Schweden die Zahlen wieder steigen würden. Er werde der Regierung dann empfehlen, darauf zu reagieren. Einen erneuten Shutdown der Kultur oder das Schließen von Bars und Restaurants zieht er dabei in Zweifel. Blickt man auf zwei Jahre Pandemie, stechen die schwedischen Corona-Zahlen im Vergleich zu Europa nicht mehr hervor. Aber, so räumt er ein, habe sich im Gegensatz zu den nordischen Nachbarländern gezeigt, dass die sozioökonomischen Effekte einer größeren Armut und verschärfteren Wohnsituation in Schweden als in den Nachbarländern Norwegen und Finnland, zu mehr Infektionen und Todesfällen geführt haben. Den ganzen Artikel lest ihr auf Englisch hier.
Klimaaktivistin Greta Thunberg sieht die COP 26 als gescheitert an. “Es sollte offensichtlich sein, dass wir die Krise nicht mit den selben Mitteln bekämpfen können, mit denen wir sie hervor gerufen haben,” ist eines der ikonischen Zitate, mit denen sie den Klimagipfel kommentiert hat. Im Interview mit Svt vergangenen Sonntag hat sie außerdem daraufhin gewiesen, dass die Verlagerung der Verantwortung bezüglich Klimaschutz weg von Individuen hin zur Politik muss. Das Interview auf Schwedisch könnt ihr hier anschauen.
Rezept für zuhause
Jetzt ist es allerhöchste Zeit, Glögg anzusetzen, wenn ihr ihn dieses Jahr wie in Schweden selbst machen möchtet. Vor einigen Jahren habe ich das Rezept dafür mit Zutaten aus dem deutschen Supermarkt aufgeschrieben. Warum jetzt? Weil das Weihnachtsgetränk vier bis sechs Wochen ziehen muss.
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