Nach einigen Jahren kreativen Chaos finde ich inzwischen Planung und Fokus ganz gut. Seine Zukunft zu manifestieren funktioniert natürlich genauso wenig wie der Glaube daran, dass Erfolg allein durch harte Arbeit erreicht wird. Aber manchmal hilft es, sich bestimmte Träume vor Augen zu halten, wenn man sie erreichen will. Eine der Manifestationsübungen auf dem Weg zu einem kreativeren, integeren, selbstbestimmterem Leben, zum Beispiel in Julia Cameron’s “The artists’s way”(“Der Weg des Künstlers”), ist, sich seine perfekte Umgebung zum Wohnen und arbeiten vorzustellen. Bei mir gehört seit Jahren immer Wasser in der Nähe der Haustür dazu. Was neu ist: Die Architektur hat sich immer mehr konkretisiert, fast concrete-isiert könnte man meinen: Ich stelle mir ein Hochhaus vor, mit vielen günstigen Wohnungen für sehr viele Menschen. Von hier aus kann man das Meer sehen. Ein Hochhaus aus grauem Beton. Ein rotes Holzhaus am See taugt mir höchstens zum Urlaub, zum Leben ist es eindeutig zu menschenleer.
Auf instagram habe ich neulich darüber philosophiert, warum ich mich gern in Schweden’s Städten herumtreibe.
Meine derzeitige Wohnung kommt der Manifestation bereits ziemlich nahe. Sie liegt in einem Betonhaus mit viel Platz für günstige Wohnungen und verschiedene Menschen, hinter ihr liegt ein kleiner Stadtwald zum Spazieren gehen. Das Meer kann man von hier aus noch nicht sehen, obwohl es die richtige Seite von Göteborg ist. Das Haus hat Solarzellen und grüne Bäume auf dem Dach. Neulich war ich aber bei einem Tag der offenen Tür und fand ein noch perfekteres Zuhause, obwohl ich es noch nicht manifestiert hatte: Ein Kollektiv-Haus für viele, verschiedene Menschen, von Studierenden zu Pensionär_innen, mit Plätzen für die Gemeinschaft, zum Essen, zum Spielen, für Yoga und zum Sonnen auf einer seeehr großen Dachterasse. Was ich bisher leider nicht manifestieren kann: Genug Lohn für die Miete für einer der einzelnen Wohneinheiten.
Ich vermute leider, damit bin ich nicht allein. Und dieser wunderschöne Ort, an dem es zum Tag der offenen Tür nach Kaffee und Zimtschnecken roch, die man sich beim Anschauen schmecken lassen konnte, ist nicht einmal besonders teuer. Sehe ich mir die durchschnittlichen Löhne in Schweden an, können sich die meisten meiner Bekannten und Freund_innen diese Miete trotzdem nicht leisten. Der Durchschnittslohn war mit umgerechnet etwa 3300 Euro brutto in Schweden auch im Jahr 2021 nicht besonders niedrig, aber niedriger als die etwa 4100 Euro in Deutschland. Die Gehaltschere driftet dabei aber sehr weit auseinander. Ganz unten in der Liste der niedrigen Einkommen in Schweden stehen: Callcentermitarbeiter*innen, Café- und Konditoreibedienungen, Heimpflege- und Kassenpersonal, ganz oben Bank-, Finanz- und Versicherungschefs. Wer in der Liste ganz unten steht, müsste fast die Hälfte seines Bruttoeinkommens für die Miete blechen, selbst in dem im Vergleich zur Haupstadt Stockholm verhältnismäßig günstigen Göteborg. In Deutschland sieht das nicht anders aus, zeigen diverse Statistiken.
Und so bleibt meine Lösung für das Bedürfnis nach gemeinsamen Schaffen und mehr Raum für mich und meine Arbeit vorerst die kleine Wohnung nebenan, plus ein Co-Working-Space in Göteborg Gamlestad, einer Gegend, in der früher Hausangestellte und Fabrikarbeiter*innen lebten, und in deren Fabrikgebäuden heute Tech-Unternehmen sitzen. Im Sommer bin ich in einer Mittagspause auf einen Hügel im dortigen Redbergspark spaziert. Eine Drehtür ins Nichts stand auf dem kleinen Berg, von dem man eine gute Aussicht über weite Teile der Stadt hatte, Hochhäuser, Wasser, Brücken. Ich bin ein paar Mal durch die Tür hindurch gegangen und fand mich doch immer wieder in diesem unspektakulären Park wieder, frei von Tourismus, ganz ohne Schwedencharme. Ich war hungrig und wusste: In den Untergeschossen der Gebäude aus den 50er Jahren gibt es keine hippen Cafés, sondern Fikastuben, die Mittagsgerichte aus Pasta mit Hackfleischsoße, majonäselastige Salate und wie immer in Schweden guten Kaffee anbieten. Wie viel von diesem Gamlestad wird wohl weiter bestehen, bei dem voranschreitenden Creative Washing, von dem auch ich ein Teil bin?
Vielleicht ist das mit dem Manifestieren bei mir wie bei dieser Drehtür: Das, was ich mir wünsche, hat natürlich mit meinen Erfahrungen zu tun, und dem, was mir vermeintlich noch fehlt. Aber eben nicht nur mir allein. Mir gefällt deshalb diese offene Drehtür auf dem Hügel als Bild: Ein freies Sichtfeld nach links und rechts, kein einsames Haus am Meer, perfekt eingerichtet voller schöner Dinge, die man zuvor manifestiert hat. Sondern ein Stadtraum gefüllt mit Möglichkeiten und Warnungen.