Wenn Sie diesen Newsletter geöffnet haben, haben sie vermutlich noch andere Newsletter im Postfach. Vermutlich auch Nachrichtennewsletter. Ich selbst habe zum Beispiel den von Zeit-Online, Tagesspiegel, Neues Deutschland, mehrere von der New York Times und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abonniert. Jeden Morgen verschaffe ich mir kurz einen Überblick darüber, was in der Welt so los ist, bevor ich mich auf die Themen fokussiere, die für meine journalistische Arbeit wichtig sind. Denn überall kann man nicht sein, und freie Journalist*innen wie ich decken meist bestimmte Themen und/oder eine bestimmte Region ab. Für alle anderen ist meist wichtiger, was direkt vor der Haustür passiert und ein Land fügt sich in eine größere Dynamik ein.
Vielleicht haben Sie gestern also die Schlagzeile des Wahlsiegs der italienischen Partei “Fratelli d'Italia” gelesen und gedacht: Ein weiterer Rechtsruck in Europa. In dieser Klammer wurde auch recht viel in deutschen Medien über die Wahlen zum Reichstag in Schweden berichtet. Viele Fakten kennen Sie also bestimmt schon. Noch ist die Regierung nicht gebildet, aber der Machtwechsel von einer Regierung der Sozialdemokraten hin zu einem rechts-konservativen Bündnis steht so gut wie fest. Doch was heißt das eigentlich für die nächsten vier Jahre?
Machtwechsel steht fest - Menschen in Schweden leben mit den Konsequenzen
Während der Nachrichtenzyklus weiterläuft, müssen Menschen mit den Konsequenzen dieser Wahl leben. In jedem Fall werden die rechten Schwedendemokraten, die zur zweitstärksten Partei gewählt wurden, weiter Einfluss auf die Politik der bürgerlicheren Parteien gewinnen. Neuer schwedischer Ministerpräsident wird wahrscheinlich nach derzeitigem Stand Ulf Kristersson von den (konservativen) Moderaten, die mit 19 Prozent zur drittstärksten Partei gewählt wurden. Der Wahlkampf stand bereits unter den den Themen Kriminalität und Strafe, die typischerweise, so sagen es Politikwissenschaftler_innen, der schwedischen Rechten zugeordnet werden können. Die Asylpolitik wird wahrscheinlich restriktiver, Steuersenkungen stehen bevor. Marginalisierte, die sich ohnehin bereits auf einem diskriminierenden Arbeitsmarkt behaupten müssen, leben nun in dem Wissen, dass über 20 Prozent der Wähler*innen rechts außen gewählt haben.
Und mich wird sie in meiner Arbeit weiterhin begleiten, nicht nur in der Wahlberichterstattung, sondern im Interview mit Menschen, die mit zum Wohl marginalisierter Gruppen arbeiten oder politisch anderer Meinung sind. Außerdem gibt es da noch das gesellschaftliche Klima, dass sich manchmal in Internetphänomen entlädt wie dem Swedengate im Juni. Oberflächlich handelte der Hashtag davon, dass Kinder zu Besuch bei ihren schwedischen Freund_innen nicht mitessen dürfen - unter der Oberfläche um Ausgrenzung und eine eher negative Auffassung der schwedischen Kultur, die bisher gerade in Deutschland von einem sehr guten Ruf begleitet wurde. Und wichtig, und ein Kernthema für mich und viele Kolleg_innen sind auch die Gründe dafür, dass vor allem viele jungen Wähler_innen und Erstwähler_innen sich für liberal bis rechts-außen entschieden haben.
Das komplette Wahlresultat lässt sich gut, auch ohne tiefere Schwedischkenntnisse, beim öffentlich-rechtlichen Rundfunksender svt ansehen. Ich habe diesen Newsletter mit einiger Verzögerung geschrieben, zum Großteil aus zeitlichen, beruflichen und privaten Gründen, aber auch, weil ich mir nicht sicher war, wie persönlich ich ihn schreiben möchte. Letztendlich ist es dieser Einblick geworden - denn dieser Newsletter ist ein Real-Life-Zeitstrahl, er möchte zwischen den Zeilen meiner beruflichen Arbeit Informationen nach Deutschland schicken, persönlicher als ich das in Artikeln für andere tue, aber einen persönlichen Essay über mein Empfinden halte ich hier nicht für angebracht. Andere werden von diesem Machtwechsel stärker betroffen sein als ich. Als Journalistin erzähle ich in erster Linie die Geschichten der anderen und das Zeitgeschehen - und das soll weiterhin auch so bleiben, selbst wenn ich in diesem Newsletter meine persönlichere Sicht aus Schweden darlege und gern einmal einen persönlichen Essay schreibe.
Tipps zum Sehen und Hören:
Für Deutschsprachige in Schweden und Deutschland: Podcast-Folge von läget? zur Wahl.
Für Schwedischsprachige und in Schweden lebende: Doku-Serie über Gina Dirawi.